Siegen-Wittgenstein. Die Polizei Siegen-Wittgenstein stellt fest, dass bei Gewalttaten immer öfter zu Messern gegriffen wird: „Hemmschwelle ist drastisch gesunken.“
„Wir sind nach der Pandemie wieder in der Normalität angekommen“, stellt Andreas Müller fest – mit Blick auf die polizeiliche Kriminalstatistik 2022 heißt das nicht nur mehr öffentliches Leben, mehr Veranstaltungen, keine Corona-Maßnahmen mehr. Sondern auch: „Mit den Menschen kamen die Straftaten zurück“, so der Landrat als Chef der Kreispolizeibehörde Siegen-Wittgenstein. Das hatte sich abgezeichnet: Die Zahl der Delikte liegt wieder auf Vor-Corona-Niveau.
+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++
In den vergangenen Jahren hatte die Polizei auf den ersten Blick überaus erfreuliche Zahlen präsentieren können, gleichzeitig aber auch immer auf den „Pandemie-Knick“ hingewiesen – wenn sich weniger Menschen im öffentlichen Raum aufhalten, begehen sie im Schnitt auch weniger Straftaten. Das ist nun wieder auf ein Normalmaß zurückgependelt – was aber auch bedeutet: Siegen-Wittgenstein ist nach wie vor eine der sichersten Regionen in Nordrhein-Westfalen, betont Landrat Müller. Um 1186 Fälle, gut 9 Prozent, stieg die Zahlen von 2021 auf 2022 (von 13.122 auf 14.308; Vor-Corona-Jahr 2019: 14.578), landesweit betrug das durchschnittliche Plus knapp 14 Prozent. Bei der Aufklärungsquote liegt Siegen-Wittgenstein mit 61,66 Prozent NRW-weit auf Rang 2.
Mehrere Raubüberfälle in Siegen: Polizei schnappt Verdächtige, dann ist Schluss
Die Häufigkeitszahlen, die die Verteilung der bekanntgewordenen Straftaten je 100.000 Einwohner angibt, sei niedrig, man könne das Ergebnis insgesamt zufriedenstellend und als Beweis der hohen Leistung der Polizei bewerten, sagt Andreas Müller – und der Bevölkerung. Man sei auf Wachsamkeit, Zeugenhinweise, Unterstützung erfolgreicher Polizeiarbeit angewiesen, „das ist nicht zu unterschätzen“. „In Siegen-Wittgenstein lässt sich ausgesprochen sicher leben“, sagt auch Holger Reitz, Leiter der Direktion Kriminalität.
Außerdem kann die Polizei darauf verweisen, dass sie einige Verdächtige geschnappt hat, die man vielleicht als „Intensivtäter“ bezeichnen könnte – jedenfalls begingen sie jeweils eine ganze Reihe von Straftaten. Nach Verhaftung und Aufklärung ereigneten sich demnach kaum noch Delikte dieser Art.
Als Beispiel nennt Holger Reitz etwa eine Einbrechergruppe, die in Siegen ziemlich aktiv war.
Oder Raubüberfälle im Frühjahr und Sommer: Eine Ermittlungskommission konnte drei Verdächtige festnehmen, „danach gab es so gut wie keine Raubtaten mehr“, sagt Reitz.
Oder: Die sogenannten „Straftaten gegen das Leben“, wozu 2022 in 8 von 11 Fällen fahrlässige Tötung zählte, in Form von Betriebsunfällen oder „Ärzteverfahren“. 2021: 5; 2019: 6.
Oder ein Mann, der in Siegen und vor allem Wilnsdorf immer wieder junge Frauen in Bussen belästigt und begrapscht hatte und ebenfalls festgenommen wurde. Insgesamt wurden 58 Fälle von sexueller Belästigung verzeichnet (2021: 53, 2019: 46) Aufklärungsquote 79,31 Prozent.
Polizei gelingt in Siegen großer Schlag gegen organisierte Drogen-Kriminalität
Oder die intensive Arbeit der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „Tera“, die nach wie vor einen großen Schwerpunkt auf Ermittlungen gegen Kinderpornografie und sexuellen Missbrauch von Kindern legt. Die Zahlen sind hier förmlich explodiert, von 13 im Jahr 2018 auf 220 im vergangenen Jahr. „Jeder Fall fördert weitere ans Licht“, sagt Landrat Müller, die Polizei hat die Dunkelziffer in tatsächliche Strafverfahren umgewandelt, geht weiter gegen Pädophilen-Netzwerke und -Tauschringe vor. Gleichzeitig wurde auch noch die Aufklärungsquote verbessert.
Oder ein gründlicher Schlag gegen Drogenkriminalität, als die Ermittlungskommission „Expander“ nach längerer verdeckter Arbeit mit Unterstützung des Bundeskriminalamts im Rahmen einer aufsehenerregenden Aktion eine Drogenschmuggler-Bande hochnahm und 35 Kilo Rauschmittel sicherstellte. Die Tatverdächtigen stehen derzeit vor Gericht. „Ein immenser Schlag“, bewertet das Bernd Scholz, Abteilungsleiter Polizei, es sei nicht nur gelungen, die „Basis“ auszutrocknen, sondern gewissermaßen auch die Köpfe der Organisation abzuschneiden. Insgesamt lag die Zahl der Delikte bei 1007 (2021: 977; 2019: 878).
Vergleichsweise viele Minderjährige unter Angreifern auf Polizei
Bei aller generellen Stabilität bereiten zwei Entwicklungen Sorge: Im Bereich Straßenkriminalität stellt die Polizei fest, dass immer öfter Messer eingesetzt werden, bei den Gewaltdelikten in 83 von 598 Taten. Das heißt nicht, dass in jedem Fall zugestochen wurde, aber dass es zumindest drohend gezückt wurde. Als Reaktion darauf prüft die Polizei aktuell, die gesamte Siegener Innenstadt flächendeckend und rund um die Uhr zur Waffenverbotszone zu machen, die Erfahrungen der Bundespolizei an den großen Bahnhöfen NRWs seien gut. Außerdem sei die Hemmschwelle für Gewalt gegen Menschen in Uniform, nicht nur Polizei, „drastisch gesunken“, sagt Scholz. „Da ist grundsätzlich etwas ins Wanken geraten“, sagt er. Es gebe weniger Respekt und Wertschätzung.
Landrat Andreas Müller bewertet das mit NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) auch als eine Corona-Folgeerscheinung: Bei solchen Gewaltdelikten seien ein recht großer Anteil der Täter Kinder und Jugendliche, die, so die Vermutung, in der Corona-Zeit Rückstände in Sachen sozialer Interaktion aufgebaut hätten, ein schlechteres Konfliktverhalten als vor der Pandemie an den Tag legten. Zumindest ein Teil des Problems – aber auch generell gebe es eine Entwicklung hin zu einer gewissen Verrohung in der Gesellschaft. Diese bundesweite Entwicklung, sagt Holger Reitz, befinde sich leider auf einem Fünf-Jahres-Hoch. „367 Polizistinnen und Polizisten sind Opfer entsprechender Straftaten geworden.“
Deliktsarten: Die absolut meisten Straftaten spielen sich in Großstadt Siegen ab
Das Gefälle von der Großstadt Siegen zu vielen ländlichen Umlandkommunen ist mehr als deutlich; Entwicklungen im Oberzentrum haben Einfluss auf die Kriminalstatistik des Gesamtkreises.
Diebstahl: Steigerung um 19,33 Prozent (NRW 22,78 Prozent) von 3684 (2021) auf 4396 (Vor-Corona-Jahr 2019: 4414); Aufklärungsquote (AQ) 38,99 Prozent.
Wohnungseinbruch: In beiden Jahren 219, vor Corona (2019) 199, AQ 13,95 Prozent. „Trotz“ Lockerungen konnte in Siegen-Wittgenstein ein Tiefstand gehalten werden, so Holger Reitz – „die Wahrscheinlichkeit, im Kreis Opfer eines Einbruchs zu werden ist im NRW-Vergleich ausgesprochen gering.“
Raub/„qualifizierte“ Körperverletzung (schwere/gefährliche): Der Bezug zu Corona-Maßnahmen ist für die Polizei eindeutig feststellbar – „Die Menschen haben was nachzuholen“, so Holger Reitz. „Leider auch die Schläger.“ Präsenz und Kontrollen habe man vor allem in Siegen entsprechend stark intensiviert, zusammen mit Stadt und Bundespolizei (wir berichteten). Verzeichnet wurden 2022 insgesamt 66 mehr Körperverletzungs-Fälle (450), bei Raubdelikten 51 mehr auf 106 – Anstieg um fast 108 Prozent.
+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++
Vergewaltigung: Von 39 Taten fand keine als Überfall eines Täter auf eine ihm unbekannte Frau im öffentlichen Raum statt, betont Reitz zur Einordnung – zwei solcher Versuche habe es gegeben, ein Verdächtiger wurde festgenommen.