Siegen. Sieben Geschichten von mutigen Siegen-Wittgensteinern, die hinschauten: Wären sie nicht gewesen, wären andere tot, schwer verletzt, missbraucht.

Mutige Menschen, findet der Landrat, kann es gar nicht genug geben, gerade im Moment. In einer potenziell riskanten Situation seine Angst überwinden und aktiv werden – das ist Mut, sagt Andreas Müller. Mutig für demokratische Werte eintreten, ohne Rücksicht auf eventuelle Folgen für sich – das ist Zivilcourage. „Ohne Sie würde die Gesellschaft nicht funktionieren“, sagt er und meint damit die zehn Menschen, die Polizei, AOK und FC Eiserfeld auszeichnen, weil sie mit offenen Augen und Ohren unterwegs gewesen sind; hin- und nicht weggeschaut haben, weil sie anderen geholfen, Leben gerettet, Katastrophen verhindert haben.

Als ein Tankstellenräuber in Siegen fliehen will, schaut dieser Mann nicht tatenlos zu

Die Total-Tankstelle in Kaan-Marienborn. Ein Mann betritt den Verkaufsraum, draußen fährt ein Auto vor, er geht wieder raus. Nach ein paar Minuten kehrt er zurück, will zwei Päckchen Zigaretten. Als sich die Verkäuferin umdreht, richtet der Räuber eine Waffe auf sie, deutet auf eine Tüte: „Geld rein!“ Die Verkäuferin tut das, er flüchtet zu Fuß auf den Hinterhof der Tankstelle.

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Dort hatte sich der Täter für den Überfall umgezogen. Grzegorz Franciszek Labejsza hält sich zufällig in der Nähe auf; ihm war das auffällige Verhalten des Mannes aufgefallen. Labejsza beobachtet ihn weiter, spricht den Mann an: Was er da macht? Er habe sein Fahrrad hier abgestellt, antwortet der. Grzegorz Labejsza macht Fotos von dem Mann und kann ihn der Polizei später so gut beschreiben, dass der Räuber festgenommen wird.

Nachts in Siegen: Frau wehrt sich gegen Vergewaltiger – ein Pärchen eilt zur Hilfe

An einem Mittwochabend Ende August liegen Jonas Christian Kosiahn und seine Freundin Ramona Heinrich schon im Bett, als sie einen Schrei von draußen hören. In der Friedrichstraße mitten in Siegen ist immer recht viel los, „man hört öfter Leute schreien“, sagt Kosiahn. Dann kommt ein zweiter Schrei, „viel intensiver, mit Panik in der Stimme“, sagt er. Er stürzt aus dem Bett, wirft sich schnell etwas über, Hose, T-Shirt, keine Schuhe, und läuft raus: „Ich wollte nur schnell raus und helfen“, sagt er. Eine junge Frau war Spazieren gegangen. Kopfhörer auf, einfach umherlaufen, abschalten. Plötzlich hielt sie jemand von hinten fest, presste ihr die Hand auf den Mund, der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder. Sie fing an sich zu wehren, stürzte zu Boden, das Handy fiel ihr aus der Hand, sie rief um Hilfe, schlug und trat nach dem Angreifer.

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Als Jonas Christian Kosiahn auf die Straße läuft, hat der Täter von der jungen Frau abgelassen. Er spaziert seelenruhig zur Sandstraße. Kosiahn sieht nach der Frau, entdeckt den Mann, will noch hinterherrennen und ihn packen. Dann entscheidet er: Lieber genau angucken, um ihn beschreiben zu können. In der Eile hat er sein Handy in der Wohnung gelassen. Er schafft es, ein Auto anzuhalten, die Leute lassen ihn bereitwillig die Polizei anrufen – sie geben einem Fremden in T-Shirt, kurzer Hose und ohne Schuhe, spät am Abend, einfach so ihr Handy. Die Polizei kann den Angreifer festnehmen.

Dieser Siegener verhindert einen Großbrand – und identifiziert den Brandstifter

Der Mann wird von einem Knall wach. Er schaut aus dem Fenster und sieht brennende Mülltonnen. Direkt an dem Wohn- und Geschäftshaus, in dem er wohnt. Die Flammen haben die Kunststofffassade bereits beschädigt. Er sieht einen Mann, der weitere große Mülltonnen dazuschiebt, um das Feuer anzufachen. Er wählt den Notruf und prägt sich den Täter ein: Wie sieht er aus, was hat er an, wo läuft er hin? Nur aufgrund seiner detaillierten Beschreibung kann die Polizei den Täter festnehmen. Die Feuerwehr löscht die Flammen, der aufmerksame Nachbar hat einen potenziellen Großbrand verhindert.

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Mann wird in Siegen mit Messer angegriffen – Zwei Frauen greifen ein

Zwei Männer klingeln in einem Mehrfamilienhaus in Siegen an einer Wohnungstür. Der Bewohner öffnet die Tür und wird unmittelbar angegriffen, unter anderem mit einem Messer. Rozelin Atug wohnt eine Etage höher, sie hat Besuch von ihrer Freundin Hatice Sahin. Sie hört laute Geräusche im Treppenhaus, geht nachschauen und sieht, wie zwei Männer auf ihren Nachbarn einschlagen, mit einem Stock. Rozelin Atug prägt sich die Männer genau ein und ruft immer wieder laut „Polizei!“ Hatice Sahin beobachtet die Männer auch. Als Rozelin Atug von der Polizei zur Zivilcourage-Ehrung eingeladen wird, sagt sie zu ihrer Freundin: Sie solle das nicht zu sehr dramatisieren, „ich will nicht auf Kosten anderer Ruhm einheimsen. Immerhin wurde ein Mensch schwer verletzt“.

Bushaltestelle Wilnsdorf: Ein Mädchen wird sexuell belästigt. Dann kommen diese beiden

An der Bushaltestelle in der Wilnsdorfer Ortsmitte sitzt eine junge Frau und wartet auf den Bus. Ein Mann spricht sie an, ob sie mit ihm Pizza essen möchte. Sie lehnt ab, deutlich. Er lässt nicht locker, rückt ihr auf die Pelle, berührt sie, begrapscht sie, küsst sie, will noch mehr. Er hat nicht mit Kim Müller gerechnet: Die kommt zufällig vorbei, sieht das Mädchen und den viel älteren Mann und hört „Ich habe einen Freund!“ Kim Müller stutzt. Sucht Blickkontakt. Verliert ihn. Merkt: Die Lage spitzt sich zu. Sie geht hin, spricht die junge Frau direkt an: „Komm mit!“ Sie steht auf und kommt mit.

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Philipp Lackhoff war gerade mit dem Auto vorbeigefahren. Er hat es eilig, will zu einem Geburtstag. An der Ampel guckt er nach rechts und sieht ein komisches Pärchen, ein junges Mädchen und ein deutlich älterer Mann, der sie bedrängt. Als er losfährt, sieht er im Augenwinkel noch, wie seine Hand zu ihrer Brust geht. Philipp Lackhoff merkt, was er da gesehen hat, dreht im Kreisverkehr um, fährt zurück und ruft die Polizei. Kim Müller hat das Mädchen bereits gerettet, der Täter ist weg. Philipp Lackhoff versucht noch, ihn zu finden. „Ich hab eigentlich nicht viel gemacht“, sagt er. Die Polizei sieht das anders. Die Ermittlungen haben zu einem Täter geführt.

Er beschützt einen Mann, der schwer verprügelt wird

Als er aus seinem Auto steigt, bekommt er eine Faust ins Gesicht, mehrere Fäuste. Wegen eines Streits hat ein Mann einen anderen angegriffen. Dominik Fries sieht das. Er denkt nicht groß drüber nach, er steigt aus seinem Auto und geht hin. „Ich musste gar nicht eingreifen“, sagt er. Der Angreifer läuft weg, schon weil jemand anderes Präsenz zeigt. 2016, erzählt Fries, hatte er einen schweren Verkehrsunfall. Er lag bewusstlos in seinem brennenden Auto, jemand zog ihn raus. „Zivilcourage ist wichtig“, sagt er.

Dieser Siegener rettet einem schwer verletzten Senior das Leben

Ralf Winkelmann ist mit dem E-Bike unterwegs und sieht auf einem Wirtschaftsweg bei Feuersbach, einige Meter oberhalb, ein anderes E-Bike liegen. Er beschließt, sich das anzusehen und fährt hin. Unter dem Rad liegt ein alter Mann, schwer verletzt, in einer großen Blutlache. Der 82-Jährige ist auf dem abschüssigen, holprigen Weg gestürzt. Wenn Ralf Winkelmann unterwegs ist, hat er alles dabei, was man so braucht: Auch Verbandszeug. Er versorgt den Verletzten, wählt den Notruf, bliebt bei ihm bis die Luftrettung eintrifft.

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„Ich muss meinem Arbeitgeber danken“, sagt Ralf Winkelmann: Alle zwei Jahre absolviert er einen betrieblichen Erste-Hilfe-Kurs, „ich habe keine Berührungsängste, ich habe einfach funktioniert“, sagt er. Und er lobt die Rettungskräfte, die den Schwerverletzten so schnell und gut versorgen. Nachher, sagt er, habe er ein paar Tage gebraucht, bis die Bilder aus dem Kopf verschwunden waren. Der alte Mann wird wieder gesund. Die beiden haben guten Kontakt.