Siegen. Bei der Polizei in Siegen sichtet und bewertet ein Team kinder- und jugendpornografisches Material, den ganzen Tag. Wer erträgt diesen Job?

Mit Ton wird es schwieriger, die Bilder zu ertragen. Wenn nicht nur zu sehen ist, wie ein Mann einem Kleinkind die Windel abreißt und es vergewaltigt, sondern wenn sein Weinen, seine Schreie zu hören sind. „Videos sind noch einmal etwas Anderes als Fotos“, sagt Alexandra Schmelzer. Ihr Job ist es, sich beides anzuschauen, Tag für Tag. Sie gehört zum 15-köpfigen Team der „BAO Tera“ – der „Besonderen Aufbauorganisation“, die bei der Polizei Siegen für die Sichtung und Bewertung von kinderpornografischem Material zuständig ist. Und natürlich für die Einleitung weiterer Ermittlungsschritte.

+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++

„Es ist typabhängig, ob man das kann oder nicht“, sagt die 52-Jährige. Mit einer Kollegin und zwei Kollegen sitzt sie in einem Besprechungszimmer auf der Hauptwache in Weidenau, um darüber zu reden, wie sich Bilder und Schilderungen ertragen lassen, die für die meisten Menschen jenseits des Erträglichen liegen. Niemand bei der Polizei muss diesen Job machen, alle haben sich freiwillig dafür entschieden. „Als mich jemand fragte: ,Könntest Du Dir Kinderpornos angucken?’, war meine erste Reaktion: ,Nein’“, erzählt Katrin Glitt. Doch dann habe sie darüber nachgedacht und habe sich entschieden, es zu versuchen; auch, weil die BAO zunächst nur auf wenige Monate angelegt war. Es zeigte sich: „Ich kann es doch.“ Sie kommt aus einem völlig anderen Bereich, ist eigentlich angestellte Sachbearbeiterin für Ordnungswidrigkeiten im Verkehrskommissariat.

Siegen: Team der Polizei sichtet Kinderpornos – „Irgendjemand muss die Arbeit machen“

Die Kreispolizeibehörde hat die Besondere Aufbauorganisation (BAO) eingerichtet, um die riesige Menge an Datenmaterial abarbeiten zu können, die sich angesammelt hatte. 140 Terabyte lagen damals vor – daher auch der Name „BAO Tera“. Ein Anliegen sei es gewesen, sogenannte Gefahrenüberhänge zu erkennen, wie Polizeisprecher Stephan Pusch erläutert: Theoretisch wäre es möglich, dass auf einem der sichergestellten Datenträger Aufnahmen von einem Kind seien, das Misshandlung und Missbrauch aktuell noch ausgesetzt ist und aus dieser Situation befreit werden müsste. Dieser Fall kam in der Arbeit der BAO bisher noch nicht vor; doch niemand hier möchte riskieren, dass die Chance zur Beendigung eines solchen Martyriums womöglich verpasst wird.

+++ Lesen Sie hier: Siegen: „Rachepornos“ – wenn Kinder zu Tätern werden+++

„Ich konnte nicht wissen, ob ich damit klarkomme“, sagt Oliver Zaiczek, Dienstgruppenleiter bei der Wache Wilnsdorf, über das Material, das er täglich sichten muss. „Aber ich bin seit knapp 30 Jahren bei der Polizei, da habe ich viele schlimme Dinge erlebt. Und ich dachte: Irgendjemand muss die Arbeit machen.“ Er könne einen Schalter im Kopf umlegen. „Ich komme zurecht“, sagt er fest, schiebt dann jedoch eine Einschränkung hinterher: „Zumindest bilde ich mir das ein.“ Wie lange sich dieser Job durchhalten lässt, kann niemand im Team mit Gewissheit über sich sagen. Jede und jeder kann jederzeit gehen, wenn es ihm oder ihr zu viel wird. Getan hat das bisher erst eine Kollegin. Die anderen sind dabei geblieben, auch nach Verlängerung der Laufzeit.

Siegen: Kinderpornos, Folterszenen, Enthauptungsvideos – nicht jeder erträgt die Bilder

„Das ist keine spezielle Leistung und man braucht auch keine Superkräfte. Das ist eine Typenfrage“, sagt BAO-Leiter Meik Reichmann. Das betreffe nicht nur Kinderpornos, sondern auch alles andere, was sich auf den Computern, Smartphones, Tablets der Verdächtigen finde: brutale Gewaltszenen, Folter- und Enthauptungsvideos oder Pornos mit Tieren. Was manche Leute sich zum Vergnügen oder zur Befriedigung der eigenen Lust anschauen, sprengt den Rahmen dessen, was andere sich vorstellen können oder wollen. Dass die Mitglieder der BAO sich das geben können, hat nichts mit Mangel an Empathie oder Mitgefühl zu tun, betonen alle in der Runde. Ob man die Arbeit bei der Polizei machen könne, sei generell eine Typenfrage, sagt Meik Reichmann.

Auf Dauer ein Thema

Rund 3600 gesonderte Ermittlungsverfahren hat die „BAO Tera“ seit ihrem Start am 25. Oktober 2021 eingeleitet. Bei vielen davon handelt es sich übrigens um Fälle mit minderjährigen Verdächtigen – etwa, wenn Teenager intimes Bildmaterial von minderjährigen Ex-Freundinnen und -Freunden online verschicken. Auch dabei handelt es sich aber um Verbrechenstatbestände, wenn die Opfer unter 14 Jahre alt sind. Das Gesetz sagt: Nicht nur das Verbreiten, allein schon Schon der Besitz von kinderpornografischem Material ist strafbar.

Die BAO war zunächst nur für wenige Monate geplant, wurde dann aber verlängert und läuft nun bis zum 8. April. Wie es danach weitergeht, muss noch entschieden werden. Fakt ist, Kinderpornografie und auch der damit einhergehende sexuelle Missbrauch „bleiben ein Phänomen, das uns auf Dauer begleiten wird“, sagt BAO-Leiter Meik Reichmann.

Tatsächlich sei es oft so, dass die Partnerinnen von Verdächtigen ahnungslos seien – und dann eine erschütternde Überraschung erleben. „Da spielen sich Familientragödien ab“, sagt Meik Reichmann.

Schon immer habe es Sachverhalte gegeben, die ihn persönlich sehr mitgenommen hätten. Da war etwa zu Beginn seiner Laufbahn dieser ältere Mann, der unheimlich verzweifelt war, weil seine Frau an den Folgen eines Treppensturzes zuvor gestorben war. Er habe bei ihm gesessen, ihm zugehört, mit ihm gefühlt und schließlich seien im selbst die Tränen gekommen, erzählt der Kriminalhauptkommissar. „Ein erfahrener Kollege hat mich damals im Nachgang auf die Situation angesprochen mir danach gesagt: ,Wir müssen versuchen, uns trotz aller Empathie professionell zu distanzieren.’ Und das ist wahr, denn sonst können wir unsere Arbeit nicht machen.“ Diese Professionalität braucht es auch, wenn es beispielsweise um die Vernehmung von Verdächtigen geht. Sie wisse zwar, was ihr Gegenüber sich zu seinem Lustgewinn anschaue, doch „ich muss mich dem Menschen gegenüber neutral verhalten“, sagt Alexandra Schmelzer. Das sei nicht anders als bei anderen Straftäterinnen und Straftätern.

Das Team der „Besonderen Aufbauorganisation Tera“ sichtet und bewertet bei der Kreispolizeibehörde Siegen-Wittgenstein kinder- und jugendpornografisches Material. Die Datenmenge, die sich angesammelt hat, ist so gewaltig, dass damit 15 Leute in Vollzeit beschäftigt sind.
Das Team der „Besonderen Aufbauorganisation Tera“ sichtet und bewertet bei der Kreispolizeibehörde Siegen-Wittgenstein kinder- und jugendpornografisches Material. Die Datenmenge, die sich angesammelt hat, ist so gewaltig, dass damit 15 Leute in Vollzeit beschäftigt sind. © WP | Florian Adam

Siegen: Kinderpornos und Missbrauch – nicht selten sind es auch Täterinnen

Gespräche im Team helfen, mit den belastenden Inhalten umzugehen. Außerdem gibt es Supervision und das Gespräch mit Freunden und Familie, sofern diese dazu bereit sind – ohne Weitergabe von Interna, versteht sich. Dabei gilt es nicht nur, die Bilder zu verkraften. „Chats zu lesen, kann manchmal noch heftiger sein“, sagt Alexandra Schmelzer. „Wenn zwei Pädophile sich gegenseitig beschreiben, was sie jetzt gerne mit einem Kind machen würden.“ Und noch etwas Anderes finde sie besonders befremdlich: „Wenn Frauen die Täter sind.“ Das komme häufiger vor, als in der öffentlichen Diskussion bekannt sei.

+++ Lesen Sie hier: Siegen: Wohnungen wegen Kinderpornografie durchsucht+++

Die Täter, die den Kindern auf den Fotos und in den Videos solche Dinge antun, ermittelt die BAO in der Regel nicht. Die Verbreitung über das Internet bringt es mit sich, dass das Material überall auf der Welt entstanden ist. Auch mit diesem Punkt müssen die Ermittlerinnen und Ermittler umgehen, denn viele der unmittelbar Verantwortlichen können sie nicht zur Verantwortung ziehen. „Wir können die Welt nicht retten. Wir können nur jeden einzelnen Tag versuchen, sie besser zu machen und genau das tun wir auch“, sagt Meik Reichmann. Die BAO sorgt dafür, dass diejenigen, die Kinderpornos sammeln oder verbreiten, zur Rechenschaft gezogen werden. Auch, wenn es ein Fass ohne Boden ist, denn der globale Datenstrom reißt nicht ab. Allzu sicher sollten sich die Täterinnen und Täter aber nicht sein, denn die Ermittlungen laufen oft wie eine Art Schneeballsystem, da die Pädophilen in Netzwerken agieren: Fliegt einer auf, führt die Spur zu seinen Kontakten – und immer so weiter. Dafür kooperiert die Siegener Polizei auch mit anderen staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen im In- und Ausland.

Alexandra Schmelzer, Oliver Zaiczek, Kartin Glitt und Meik Reichmann (von links) arbeiten bei der „Besonderen Aufbauorganisation Tera“ der Polizei in Siegen. Sie müssen kinderpornografisches Material sichten, die Bilder und Szenen ertragen. „Es geht nur mit einem guten Team“, sagt BAO-Leiter Reichmann.
Alexandra Schmelzer, Oliver Zaiczek, Kartin Glitt und Meik Reichmann (von links) arbeiten bei der „Besonderen Aufbauorganisation Tera“ der Polizei in Siegen. Sie müssen kinderpornografisches Material sichten, die Bilder und Szenen ertragen. „Es geht nur mit einem guten Team“, sagt BAO-Leiter Reichmann. © WP | Florian Adam

Besondere Aufbauorganisation „Tera“ der Polizei Siegen: Ohne gutes Team geht nichts

Entscheidend, um sich der Aufgabe jeden Tag aufs Neue stellen zu können, sei der Zusammenhalt. „Es geht nur mit einem guten Team“, unterstreicht Meik Reichmann. „Wir kommen menschlich gut zurecht“, ergänzt Katrin Glitt. Die Stimmung sei gut, zwischendurch werde sogar gelacht – natürlich nicht über die strafrechtlich relevanten Inhalte oder die Opfer, sondern über andere Begebenheiten. Oder über das, was Menschen sonst noch so für Bilder und Videos auf ihren Smartphones hätten, wie Alexandra Schmelzer anmerkt. Anders würde es nicht funktionieren.

+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++