Siegen. Die Siegener Innenstadt ist kein Kriminalität-Hotspot, betont die Polizei. Das sehen viele komplett anders: „Fakten reichen offensichtlich nicht“
Die Innenstadt von Siegen ist sicher, seit Jahren sinkt die Zahl der Kriminalitätsdelikte. Gleichzeitig ist ein erheblicher, wachsender Anteil der Bevölkerung der Meinung, dass die Kriminalität zunehme. Auch in Siegen, besonders in der Innenstadt. „Diese Annahme ist falsch“, sagt Landrat Andreas Müller, Chef der Kreispolizeibehörde, „die Kriminalität geht seit vielen Jahren zurück.“ Aber nicht die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, im Gegenteil. Die Polizei will diesem Paradox begegnen und das Sicherheitsgefühl der Menschen verbessern.
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Vor Jahren, in einer Zeit mit viel mehr Straftaten, „haben sich die Menschen viel sicherer gefühlt“, so Andreas Müller. Und in einer der objektiv sichersten Regionen, sagt Bernd Scholz, Abteilungsleiter Polizei, fühlten sich die Menschen viel weniger sicher als beispielsweise in Köln, wo die Kriminalitätsrate dreimal so hoch sei. Tim Hambloch hat für seine Bachelorarbeit an der Polizeihochschule eine empirische Untersuchung des Sicherheitsgefühls in der Siegener Innenstadt durchgeführt. 3351 Personen nahmen an der nicht repräsentativen Online-Umfrage teil, von denen 62 Prozent glaubten, dass die Kriminalität stark zugenommen habe.
Erklärungsansätze: Warum fühlen sich Menschen in der Siegener Innenstadt nicht sicher?
Verletzlichkeit: Die eigenen Fähigkeiten und das Vertrauen darauf, eine brenzlige Situation allein lösen zu können, beeinflusst, wie sicher sich die die Menschen fühlen. Eigene Erlebnisse spielen eine wichtige Rolle, „eine Straftat beeinflusst viele Personen“, erläutert Tim Hambloch. Und ein Gefühl der Bedrohung, des Unwohlseins reiche aus, dass Menschen sich nicht sicher fühlen, ohne dass es tatsächlich zu einem Übergriff gekommen wäre.
Straßenbild: Tagsüber fühlen sich die meisten Menschen sicher – bei Dunkelheit nicht. Bei Frauen ist das noch ausgeprägter als bei Männern. Angsträume, schlechte Beleuchtung, finstere Ecken – die städtebauliche Struktur Siegens weckt an manchen Orten Unsicherheitsgefühle, besonders wenn ansonsten keine Passanten unterwegs sind. Die meisten Befragten wünschen sich mehr Licht, mehr Einsatzkräfte, Videoüberwachung.
Corona: In der Pandemie mit ihren Lockdowns war der öffentliche Raum ein Ort, mit dem lange Ansteckungsgefahr verbunden wurde. Zudem fand öffentliches Leben nur eingeschränkt statt.
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Soziale Medien: Auch jedes noch so banale Ereignis werde wieder und wieder geteilt und verbreitet: Die Wiederholung verfestige den Eindruck, „da kann man schon ein Unsicherheitsgefühl bekommen, auch wenn es mit den Fakten nichts zu tun hat“, sagt Landrat Müller. „Man muss das dennoch ernst nehmen und das tun wir.“ Dennoch: Immer weniger Menschen würden rechtzeitig den Notruf wählen, berichtet Bernd Scholz: „Da wird dann erstmal gefilmt und geteilt.“ Man erfahre immer öfter über Social Media von polizeirelevanten Vorfällen – und nicht über die 110. Auch in bedrohlichen Situationen könne die Polizei jederzeit verständigt werden: „Warum ruft keiner an und teilt mit, dass sich da etwas zusammenbraut?“
Die Fakten: Welche und wie viele Straftaten gibt’s denn in der Siegener Innenstadt?
Jahr für Jahr, zitiert der Landrat aus den Polizeistatistiken, ist Siegen-Wittgenstein eine der sichersten Regionen NRWs, mit vergleichsweise wenig Straftaten und hoher Aufklärungsquote. Das gelte auch für die Großstadt Siegen und deren Innenstadt, die besonders im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehe. „Sie ist kein Kriminalitäts-Hotspot“, betont Müller aber, gerade im Vergleich mit anderen Großstädten.
In Zahlen: 2021 gab demnach es in diesem Bereich 306 Fälle, im Schnitt etwa also einen pro Tag, darunter 50 Graffiti-Sachbeschädigungen, 54 sonstige Sachbeschädigungen, 38 an Fahrzeugen, 55 Taschendiebstähle. Aber eben auch 13 Fälle sexueller Belästigung und 46 Körperverletzungen, die für die öffentliche Wahrnehmung besonders signifikant sind. Beim Straßenraub als typisches Delikt liege Siegen auf Rang 25 der sichersten Großstädte in Deutschland.
Rein statistisch, so Müller, sei das nicht viel. Siegen als statistisch sichere Stadt abzutun, greife aber zu kurz. „Jeder Fall ist einer zu viel“, so der Behördenchef, vor allem für die Betroffenen.
Was will die Polizei tun, damit sich das Sicherheitsgefühl in Siegen verbessert?
Eine Herkulesaufgabe für die Sicherheitsbehörden. „Auf die Fakten hinweisen, reicht offensichtlich nicht“, so Müller. Jeder sehne sich nach Sicherheit und erwarte, dass der Staat für Sicherheit garantiert. Auch wenn das in Siegen in „außerordentlich gutem Maße“ gelinge, könne es keine 100-Prozent-Garantie geben, die Polizei nie überall gleichzeitig sein. Das Sicherheitsgefühl zu verbessern, „ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht allein die Polizei lösen kann“, sagt Tim Hambloch. Dafür brauche es nicht nur die Stadt, sondern auch ihre Bürger.
Mehr Präsenz – aber nicht zu viel. Denn viel Polizei löst ein weiteres Paradoxon aus: Wenn viel Polizei da ist, führt das zum Gefühl, dass da ja dann auch viel Kriminalität da ist. Ein bis zwei Mal pro Woche der Polizei begegnen sei das Optimum, sagt Bernd Scholz, der auch Lehrbeauftragter für Kriminologie ist. Vom Treffpunkt Sicherheit in der Oberstadt mit einem Bezirksbeamten vor 20 Jahren hin zu gemeinsamen Streifen von Kreis- und Bundespolizei und Ordnungsamt abends und nachts an Wochenenden habe sich das bereits deutlich erhöht, diese Zusammenarbeit funktioniere hervorragend. Was eine Mehrheit der Befragten aber nicht spürt, so Tim Hambloch. Dennoch soll sie gezielt weiter ausgebaut werden, auch mit bürgernäheren Aktionen als reinem Streifendienst. Denn Polizeipräsenz, betont Andreas Müller, verdrängt ja auch Teile von Kriminalität. Die Behörde müsse dies ständig analysieren und ihre Arbeit anpassen.
Kommunikation. Auch manche Medienberichte seien nicht geeignet, Realität und Gefühl in Einklang zu bringen, mahnte Bernd Scholz und bat um faktenbasierte, objektive Berichterstattung.
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Straßenbild verbessern. Man behalte Angsträume wie Unterführungen oder auch Leerstände im Blick, so Bernd Scholz. Die Stadt prüft aktuell Einsparpotenzial bei der Straßenbeleuchtung für manche Straßenzüge, die Polizei bewertet das aus präventiver Sicht. Die Stadt dunkler zu machen, sei generell nicht förderlich. „Wir sollen Energie sparen, aber heller machen...“, kommentiert der Landrat.