Siegen. Landrat Andreas Müller und Bürgermeister Steffen Mues zum Umgang mit kleiner Minderheit der Neonazis und ihrer Selbstzurschaustellung in Siegen.
Der demokratische Rechtsstaat schützt auch die, die ihn ablehnen. Das sorgt oft für Irritationen, wird als Zeichen der Schwäche gewertet. Der Eindruck trügt aber: Während Verfassungsfeinde vermeintlich Negatives für ihre Zwecke auszuschlachten und zu instrumentalisieren suchen, bejaht die Demokratie das Positive. Gesetze gelten für alle Menschen – auch für die, die das System ablehnen. Das ist keine Schwäche. Im Gegenteil.
Lauten rechtsextremen und rassistischen Minderheiten gelingt es auch in Siegen, mit ihren menschenfeindlichen Ansichten öffentlich vorzukommen. Das Erregungspotenzial ist hoch, was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es sich um verschwindend kleine Gruppierungen handelt – wie die vom Verfassungsschutz beobachtete und als rechtsextrem eingestufte Kleinstpartei „Der dritte Weg“.
Aus Siegen und Umgebung selbst sind nur eine Handvoll Neonazis aktiv
Deren in Siegen und Umgebung ansässigen Aktiven lassen sich an zwei Händen abzählen. Um halbwegs im öffentlichen Raum sichtbar sein, ihre vermeintlich martialischen Zurschaustellungen aufführen zu können, benötigen sie die Unterstützung auswärtiger Gesinnungsgenossen, die dazu gezielt für Aktionen nach Siegen geholt werden.
Die Eröffnung eines Parteibüros auf der Hammerhütte hat für die Neonazis mehrere Vorteile: Schon der Straßenname „Schlachthausstraße“ passt zu ihrer militaristischen Selbstinszenierung. Siegen ist verkehrstechnisch günstig gelegen, über Autobahnen und Zugstrecken aus vielen Richtungen gut erreichbar. Partnerstadt ist Plauen in Sachsen, wo die Splitterpartei ebenfalls einen „Stützpunkt“ unterhält. Und als Studenten- und Universitätsstadt gibt es in Siegen viele eher linke Gruppierungen, bei denen die Rechtsextremen verlässlich für Empörung sorgen können.
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Denn ihre Währung ist Aufmerksamkeit, in jeglicher Form. Das Herumstehen mit Fahnen und Fackeln in Parteijacken vor dem eigenen Büro, großtuerisches Posieren vor „linken“ Einrichtungen, Propaganda in den sozialen Netzwerken, Selbstinszenierung als vermeintliche Opfer – all das dient den Neonazis und ihren Sympathisanten als Basis für die eigene politische Erzählung.
Vor dem Gesetze sind alle gleich – Kleine Neonazi-Demo durfte in Siegen stattfinden
So ungerecht es im Einzelfall erscheinen mag: Gesetze gelten für alle und die Neonazis sind zumindest klug genug, das für sich zu nutzen. „Die rechtliche Grundlage ist nicht allen bewusst“, sagt Bürgermeister Steffen Mues, „es ist schwierig zu transportieren, welch hohen Stellenwert das Demonstrations- und Versammlungsrecht in unserem System haben“. Zuletzt am 8. Mai hatte für Empörung gesorgt, dass ein von den Neonazis angemeldeter Demo-Zug durch die Hammerhütte stattfinden durfte, während die ungleich größere Demo unter anderem von „Siegen gegen Rechts“ letztlich vom Oberverwaltungsgericht untersagt worden war.
„Wir können den Menschen nur immer wieder erklären: Solange diese Partei nicht verboten ist, können wir nicht nach Gutdünken ihre Versammlungen oder Demonstrationen untersagen, weil sie uns nicht passt“, betont Steffen Mues. Im aktuellen Fall kam der Infektionsschutz hinzu: Demonstrationen müssen auch unter Pandemiebedingungen in gewissem Maße gewährleistet werden. Weil Demozüge in Bewegung sind, bestehen eher Infektionsrisiken als bei einer „stehenden“ Kundgebung – die von „Siegen gegen Rechts“ durfte auf dem Schlossplatz ja auch stattfinden. Bis zu einer gewissen Grenze sind aber eben auch Umzüge erlaubt – und genau bis zu dieser Grenze gingen die Faschisten.
Kundgebung in Siegen – mehrere kleine Umzüge wären möglich gewesen
Es sei vor dem 8. Mai klar gewesen, dass der Demozug mit 500 Menschen durch den Infektionsschutz verhindert werde, „aber man wollte mit dem Kopf durch die Wand“, stellt Landrat Andreas Müller fest. „Das andere Bündnis hat zugelassen, dass ihr Aufzug untersagt wurde – das hätte anders laufen können“, sagt auch Bürgermeister Mues. „In Kenntnis der Tatsache, dass dieses Bild entstehen könnte, hätte man versuchen können, mit deutlich mehr Leuten als die Rechten mehrere kleinere, dezentrale Umzüge durchzuführen.“
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Zur Wahrnehmung „Die Rechtsextremen dürfen etwas, das die anderen nicht dürfen“ – „das tut mir persönlich weh, dabei zuschauen und es sogar schützen zu müssen“, gibt Landrat Andreas Müller mit Blick auf den Neonazi-Umzug zu. Auch für die Polizei, deren oberster Dienstherr Müller ist, sei das nicht einfach, weil umfangreiche Schutzmaßnahmen durch entsprechende Kräfte nötig werden. „Das macht keiner gerne, aber es ist ein hohes Gut unseres Grundgesetzes, das wir selbstverständlich schützen.“
Auch die bürgerliche demokratische Mehrheit in Siegen ist gefragt
Dem Eindruck, dass Rechtsextreme in Siegen tun könnten, was sie wollen, widersprechen Bürgermeister und Landrat entschieden. Beide positionieren sich persönlich klar gegen Rechtsextremismus, auch wenn sie als Behördenvertreter dessen Propagandisten neutral begleiten müssen. „Sie sind klug genug an die Grenze des rechtlichen Rahmens zu gehen – aber nicht darüber hinaus“, sagt Müller. Wenn das das geschehe, werde man das in keiner Weise tolerieren. Das gelte auch für Drohgebärden wie nächtliches Herumlungern im Fackellicht vor linken Einrichtungen. Das Gefühl mangelnder Sicherheit dürfe nicht entstehen, so der Landrat, „wir nehmen das sehr ernst“. Man arbeite eng mit dem Staatsschutz zusammen. Die Gewaltbereitschaft einzelner Akteure aus dem rechtsextremen Milieu sei bekannt.
Die Polizei habe etwa genau überwacht, ob die Auflagen – Zahl von Teilnehmern, Trommeln, Fahnen, Fackeln usw. – eingehalten wurde, 21 Verstöße wurden geahndet. „Da lassen wir auch nicht nach“, kündigt Müller an. „Gleiche Regeln für alle“, das werde man weiter unmissverständlich klarmachen. Auch im Umfeld des AfD-Parteitags in der Siegerlandhalle am 15. Mai suchte die rechtsextreme Partei die Provokation. Das Herumfahren eines Neonazis mit dessen Transporter vor der Gegendemo wurde von der Polizei unterbunden – bei Fahrzeug und Halter waren mehrere Verstöße festgestellt worden.
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Und hier ist die Zivilgesellschaft gefragt, die bürgerliche, demokratische Mehrheit. „Der Kampf gegen Extremismus geht alle an“, sagt Landrat Müller, der zusammen mit Bürgermeister Mues dazu appelliert, einer faschistischen Kleinstgruppe nicht die öffentliche Wahrnehmung, die Straße, das Quartier zu überlassen. „Das ist kein Viertel der Neonazis; hier leben viele Menschen aus vielen Gegenden der Welt“, sagt Steffen Mues. Corona habe Versammlungen und Veranstaltungen, die nicht aus reiner Lust an der Provokation angemeldet wurden, zwar erschwert – aber das könne sich ja auch wieder ändern.