Schmallenberg. Anfang kommenden Jahres soll die elektronische Patientenakte für gesetzlich Versicherte kommen. Ist die Technik überhaupt soweit?
Ein Beispiel für die vielbeschriebene deutsche Gründlichkeit? Bereits vor 20 Jahren wurde über die elektronische Patientenakte (ePA) für gesetzlich Versicherte gesprochen. Jetzt, genauer: am 15. Januar 2025, soll die „ePA für alle“ in den Modellregionen NRW, Franken und Hamburg starten.
„Ein Meilenstein für die Digitalisierung unseres Gesundheitssystems“, wie es im Bundesgesundheitsministerium heißt. In Berlin erhofft man sich langfristig durch die Akte weniger unnötige Untersuchungen, geringere Kosten und die Sammlung von Patientendaten zu Forschungszwecken.
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Vier Wochen dauert der Test im Praxisbetrieb in den Modellregionen. Mitte Februar soll im ganzen Bundesgebiet das Ende von Karteikarten und Zettelwirtschaft in Arztpraxen und Krankenhäusern eingeläutet werden. Die Akte wird über eine App aufgerufen, die die Krankenkasse zur Verfügung stellt. Sie soll als digitaler Speicher für alle wichtigen Gesundheitsdokumente wie Befunde, Laborwerte und Medikamente dienen. Vor der Einführung mehren sich jedoch Berichte über technische Probleme.
Von Expertenseite wird massiv Kritik geübt. So sagte der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber, dass auf das deutsche Gesundheitswesen eine unvollständig getestete „tiefgrüne Schrumpelbananensoftware“ zukomme. Was sagt eine Ärztin aus dem Sauerland über die elektronische Patientenakte?
„Sie ist wie eine Einkaufstüte. Man greift hinein und holt sich irgendetwas heraus. Und zwar eine unsortierte und unstrukturierte Ansammlung von Dokumenten.“
Vierwöchige Pilotphase in NRW
Katja Köhler ist Hausärztin in der Schmallenberger Praxis „360 Grad Mensch“. Die Praxis im Hochsauerland gehört nicht zu den mindestens 50 Praxen im Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, die an der vierwöchigen Pilotphase in der Modellregion NRW teilnehmen. Aber Katja Köhler hat sich vorab auch als Vorstandsmitglied im Hausärztinnen- und Hausärzteverband Westfalen-Lippe intensiv mit der Materie beschäftigt. „Es ist unglücklich“, sagt die Allgemeinmedizinerin, „wenn bei der Einführung der ePA der Eindruck von Chaos entsteht und keiner mehr so richtig durchblickt.“ Sie stehe grundsätzlich hinter der Einführung, sagt sie, wolle aber eine „gewisse Skepsis“ nicht verbergen.
Natürlich, so sagt sie, seien Sinn und Zweck der E-Akte, dass es „in Zukunft weniger Doppeluntersuchungen geben soll, dass die Ärzte immer alle Gesundheitsdaten im Blick haben und bei medizinischen Notfällen schneller Informationen zu Vorerkrankungen und Medikamenteneinnahme erhalten“. Das große Problem sei, dass genau das aus ihrer Sicht in der ePA noch nicht organisiert ist: „Sie ist, so wie sie Mitte Februar 2025 bundesweit kommt, wie eine Einkaufstüte. Man greift hinein und holt sich irgendetwas heraus. Und zwar eine unsortierte und unstrukturierte Ansammlung von Dokumenten.“
Kassenpatient muss Akte selbst verwalten
Die ePA sei eine Patientenakte, die der gesetzlich Versicherte selbst zu verwalten habe und der er auch widersprechen könne, erläutert Katja Köhler: „Wir Ärzte sind nicht verpflichtet, die E-Akte zu pflegen oder Befunde, die nicht von uns sind, in dieser Akte nachzuhalten.“ Die Patienten dürften selbst entscheiden, welche Dokumente in die E-Akte hochgeladen werden. Die Hausärztin aus dem Sauerland: „Der eigentliche Sinn und Zweck der E-Akte – eine bessere Vernetzung zwischen den Praxen und mit den Krankenhäusern sowie ein effektiver Zugriff bei Notfällen und in den Sprechstunden – wird ad absurdum geführt, wenn die Akte unvollständig ist.“
Katja Köhler befürchtet, dass der Umgang mit der E-Akte zunächst auch daran kranken könnte, dass es im deutschen Gesundheitswesen nach wie vor bei der Digitalisierung hapere: „Auch wenn sich viele Praxen bereits Arztbriefe und Befunde elektronisch hin- und herschicken, ist vielerorts weiter das Fax-Gerät im Einsatz – zumal das eine oder andere Krankenhaus technisch noch mehr hinterherhinkt.“ Die Praxen seien nicht verpflichtet – und könnten es auch personell nicht stemmen – per Fax oder Post übermittelte Schreiben in die E-Akte einzupflegen, so betont sie.
Wie die Stiftung Gesundheit soeben bekanntgegeben hat, fühlt sich die Mehrheit der Ärzte in Deutschland nicht ausreichend auf die Einführung der elektronischen Patientenakte im kommenden Jahr vorbereitet. Fast die Hälfte der Befragten habe bei einer Umfrage angegeben, nur geringe oder gar keine Vorkenntnisse zu haben. Vor allem bei den Punkten Datenübertragung in die neuen Akten, Haftungsfragen und Zugriffsberechtigungen fühlten sich gut 60 Prozent der teilnehmenden Ärzte zu wenig informiert.
Zweifel an der Technik
Informationsdefizite scheinen auch bei den Patienten vorhanden zu sein, wie Hausärztin Katja Köhler schildert: „Mich hat noch kein einziger Patient auf die E-Akte angesprochen“, sagt sie und erzählt, dass sie einige Patienten gefragt habe, ob sie das Schreiben der Krankenkasse zur E-Akte gelesen hätten. „Einige haben das Papier gleich abgeheftet und die Thematik nicht weiterverfolgt. So werden es viele handhaben. Ich glaube, dass viele Patienten nicht wissen, was ab Mitte Februar auf sie zukommt. So einfach und unkompliziert, wie es im Schreiben der Krankenkassen klingt, wird es nicht sein.“
Dass zum geplanten bundesweiten Start am 15. Februar die Patienten ihre Praxis stürmen und mit Fragen zur E-Akte löchern, glaubt die Allgemeinmedizinerin aus Schmallenberg nicht: „Wir sind auch nicht der Ansprechpartner“, stellt sie klar, „es ist geregelt, dass das in der Hand der Krankenkassen beziehungsweise von ihnen eingerichteten Ombudsleuten liegt.“
Und auch die Technik könnte einer reibungslosen und erfolgreichen Einführung der ePA im Wege stehen, befürchtet Katja Köhler. Es gebe etwa 100 medizinische Softwarefirmen auf dem Markt, sagt sie, nur etwa 30 davon könnten aktuell eine E-Akte bereitstellen: „Wir müssen bereits jetzt im Alltag damit leben, dass Praxis- und Betriebssysteme nicht kompatibel sind, Schnittstellen-Problematiken aufweisen. Wie wird das bei der E-Akte?“
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