Lünen/Werne. Was wusste der Chef von Tierschutzverstößen auf seinem Firmengelände? Tierschützer fordern bei Mahnwache empfindliche Strafe.
Man könnte eine Nadel fallen hören im Saal 127 des Amtsgerichts Lünen, als die Dortmunder Staatsanwältin Jennifer Preyss die Anklage wegen Tierschutzverstößen in elf Fällen gegen den 52 Jahre alten ehemaligen Chef einer Traditionsmetzgerei und -schlachterei in Werne an der Lippe (Kreis Unna) vorliest.
Das Geschilderte ist ein Kabinett der Grausamkeiten, das selbst hartgesottene Seelen tief berührt: Abgemagerte, todkranke Rinder sollen im Sommer 2021 in einer von dem Angeklagten als Geschäftsführer einer GmbH betriebenen Tiersammelstelle von zwei Mitarbeitern brutal misshandelt worden sein. Verbotenerweise soll auch ein krankes Rind zu Fleisch und Wurst verarbeitet worden und in den Handel gelangt sein. Die große Frage zum Prozessstart? Was wusste der Chef von den Machenschaften?
Mahnwache vor dem Gerichtsgebäude
45 Minuten vor Prozessbeginn stehen vor dem Amtsgericht 20 Tierschützer mit Schildern in der Hand. Die Aufschriften: „Gefängnis für den Tierquäler“ und „Gerechtigkeit für Tiere“. Beide versehen mit Ausrufezeichen. Die Organisation „Soko Tierschutz“ hat zu einer Mahnwache aufgerufen, ihr Sprecher Friedrich Mülln sagt zu Journalisten, „dass in Deutschland die Verantwortlichen illegaler Geschäfte mit Tieren in der Regel mit einem blauen Auge davon kommen“.
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Die Soko Tierschutz war es im Sommer 2021, die die brutalen Quälereien von Werne mit verdeckten Videoaufnahmen ins Rollen brachte. Was darauf zu sehen ist, sprengt jegliche Vorstellungskraft: Wie im Wahn prügelt ein Mann auf ein am Boden liegendes Rind ein. Ein anderes wird bei vollem Bewusstsein an einer Seilwinde hochgezogen und dann auf einen Transporter geworfen.
Rinder können nicht mehr aufstehen
In den Videos, so heißt es in der Anklageschrift, sind wiederholt Rinder zu sehen, die so schwach sind, dass sie nicht mehr aufstehen können. „Bei einem Tier war die Gebärmutter nach außen gestülpt“, beschreibt Jennifer Preyss, andere hätten stark gelahmt und verletzte Gliedmaßen aufgewiesen.
Die Tiersammelstelle, so die Staatsanwältin von der bei der Dortmunder Staatsanwaltschaft angesiedelten Zentralstelle für die Verfolgung der Umweltkriminalität in NRW, habe nur eine Zulassung für Pferde besessen. Aber dort seien schwerkranke Rinder angekommen, vorübergehend gehalten und dann zur Schlachterei am Stammsitz der GmbH in der Werner Innenstadt gebracht worden. Obwohl sie transportunfähig gewesen seien.
Mehr noch: „Einige Rinder in der Sammelstelle erhielten mehr als 24 Stunden kein Wasser und kein Futter.“ Und: „Tiere mit einem ersichtlich äußerst schlechten Gesundheitszustand wurden nicht tierärztlich versorgt.“ Angesichts des „langanhaltenden Leids“ hätte man Nottötungen in Betracht ziehen müssen.
Staatanwaltschaft: Hinweise an Firmenchef
Der Firmenchef, so die Vertreterin der Strafverfolgungsbehörde, sei wiederholt in der Sammelstelle gewesen und habe schwerkranke Tiere gesehen. Von einem Mitarbeiter sei er explizit darauf hingewiesen worden. Die Staatsanwältin: „Das Tierwohl hat nicht gezählt, sondern ausschließlich wirtschaftliche Interessen.“ Die beiden Mitarbeiter, die auf Videoaufnahmen zu sehen waren, wurden in abgetrennten Prozessen bereits verurteilt. Einer belastete seinen Chef als Mitwisser tierschutzrechtlicher Vergehen schwer.
Es geht unappetitlich weiter bei der Verlesung der Anklageschrift: Bei vollem Bewusstsein seien Rindern Blut „in viel zu großen Mengen“ entnommen worden - bis zu 12 Litern. Ein in der Sammelstelle verendetes Rind sei zur firmeneigenen Schlachterei gebracht worden und dort illegal zu Fleisch und Wurst verarbeitet worden - was anschließend in den Handel gelangt sei.
Der Mann, der auf der Anklagebank sitzt und seinen Beruf mit „selbstständig“ angibt, gehörte einst zur Orts-Prominenz in der westfälischen Kleinstadt. Der Metzger des Vertrauens, im weiten Umkreis auch bekannt durch die Herstellung von Pferdewurst und -fleisch. Der ungläubige Aufschrei in der Bevölkerung war groß, als nach Bekanntwerden der Tierquäler-Vorwürfe der Kreis Unna als Aufsichtsbehörde den Traditionsbetrieb mit Ladenlokal und Schlachterei schloss. Das Interesse an dem Fall scheint weiter groß: Alle Besucherplätze im Lünener Gerichtssaal sind belegt.
In der Anklageschrift werden dem 52-Jährigen Tierschutzverstöße in elf Fällen vorgeworfen. Staatsanwältin Preyss hat 34 neue Vorwürfe in einer sogenannten Nachtragsanklage aufgelistet, die sie beim Prozessauftakt verliest. Die neuen Anklagepunkte hätten sich bei der Auswertung von Videoaufnahmen und bei den Prozessen gegen zwei Mitarbeiter des Westfalen ergeben.
Tier an Seil über Asphalt-Boden gezogen
Opfer sollen auch Kälber sein, die „zum Teil in schwerster Form misshandelt wurden“: mit Tritten gegen den Kopf, durch Stiche mit einer Mistgabel, durch Schläge mit einem Kunststoffrohr. Ein Kalb sei in der Tiersammelstelle über eine längere Strecke an einem Seil über den asphaltierten Boden gezogen worden. Bei vollem Bewusstsein. Die Staatsanwältin: „Es ist jegliches Gefühl für Schmerz und Leid verloren gegangen.“
Bei dem Angeklagten, so sagt sie, habe die „Organisationshoheit“ gelegen. Sie fordert ein Tierhaltungsverbot für den 52-Jährigen: „Er wird sich auch in Zukunft nicht anders verhalten.“
Das Gericht um Richterin Beatrix Pöppinghaus muss jetzt entscheiden, ob die 34 neuen Vorwürfe mitverhandelt werden. Bis zu einer Entscheidung ist die Hauptverhandlung nach gerade einmal einer Stunde erst einmal ausgesetzt.
Martin Düerkop, Anwalt aus Iserlohn und Verteidiger des Angeklagten, kritisiert, dass die Staatsanwaltschaft plötzlich neue Vorwürfe „aus dem Hut gezaubert“ habe. Sein Mandant solle für Taten verantwortlich gemacht werden, die Mitarbeiter begangen hätten. Durch die neue Lage vergehe weitere Zeit. „Mein Mandant wurde von der Öffentlichkeit vorverurteilt. Ihm ist sehr daran gelegen, dass dreieinhalb Jahre danach die juristische Aufarbeitung zu Ende geht.“
Lukratives Geschäft
Mit einer Gefängnisstrafe, wie die Tierschützer bei ihrer Mahnwache vor dem Amtsgericht fordern? Friedrich Mülln von der Soko Tierschutz ist die 750 Kilometer von seinem Wohnort nach Lünen gefahren, kommt am ersten Prozesstag wegen der Aussetzung der Hauptverhandlung nicht zu seiner geplanten Zeugenaussage.
Am Rande des Termins sagt er: „Der Rechtsstaat würde sich unglaubwürdig machen, wenn wieder kein Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen wird, der viel Geld mit illegalen Geschäften macht.“ In welchem Umfang? „Man bekommt von einem Landwirt ein Tier für 50 Euro oder gratis und kann bis zu 3000 Euro daraus erwirtschaften. Dieses System ist auch wegen Behördenversagens eine Lizenz zum Gelddrucken.“
Der Werner Tierschutz-Skandal schlug vor dreieinhalb Jahren bundesweit Wellen. Hat sich in der Branche nach dem Aus für den Traditionsbetrieb etwas verändert? Friedrich Mülln schüttelt den Kopf. „Es sind bundesweit viele Betriebe in die Bresche gesprungen. Und es wurde in Überwachungskameras und andere Sicherheitstechnik investiert. Es wird für Tierschützer immer schwieriger, Missstände per Videoaufnahme festzuhalten.“
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