Hagen/Menden. Eine Mendenerin berichtet, wie es sich anfühlt, wenn überall nur noch Schwärze und Schwere ist - und wie man da wieder rauskommt.
Sie tut sich schwer damit, das zu beschreiben. Das Gefühl ist zu stark, um es mit Worten beschreiben zu wollen. Zu stark oft, um dagegen anzugehen. Das ist ja das Problem bei Depressionen. Niemand, der es nicht erlebt hat, weiß, was es bedeutet, wenn man morgens aufwacht und keine Kraft hat. Keine Kraft aufzustehen. Keine Kraft zu frühstücken. Keine Kraft für irgendwas. „Ich weiß, wie es ist, wenn ich in diesem schwarzen Tal hänge“, sagt die Frau, die lieber anonym bleiben will. Ein Tal aus Schwärze. Keine Freude. Nur bleierne Schwere. Wer sich so fühlt, will damit öffentlich nicht unbedingt in Erscheinung treten.
Westfalen-Lippe: Fast eine Million Menschen leiden an Depressionen
Depressionen sind eine Qual, aber sie sind keine Seltenheit, wie eine aktuelle Analyse der AOK-Nordwest zeigt, die am Montag veröffentlicht wurde. Fast eine Million Menschen sind allein in Westfalen-Lippe wegen Depressionen in Behandlung. Zwischen 2017 und 2022 wuchs der Anteil der Betroffenen von 11,7 auf 13,2 Prozent. Der Wert liegt über dem bundesweiten Durchschnitt von 12,5 Prozent. Erstmals war es nun möglich, regionale Unterschiede herauszufiltern (siehe Grafik). Ergebnis: Der Anteil der Menschen, die sich wegen Depressionen in Behandlung begeben, ist besonders hoch in Hagen (16,8 Prozent) und dem Märkischen Kreis (16,2).
Die Frau, die anonym bleiben will, ist 67 Jahre alt, kommt aus Menden, Märkischer Kreis. Depressionen begleiten sie fast ihr ganzes Leben. „Eigentlich liebe ich das Leben“, sagt sie. Eigentlich.
Vor wenigen Wochen erst endete ein siebenwöchiger Aufenthalt in der Klinik. Es war der dritte in den vergangenen drei Jahren. „Jetzt geht es mir gerade ganz gut“, sagt sie. Aber nicht immer traut sie diesem inneren Frieden. Zu lang begleitet sie die Depression schon. Genau genommen: ihr ganzes Leben.
Emotionaler Zusammenruch - jeden Tag
In der Pubertät habe das schon angefangen mit depressiven Phasen, ausgelöst durch schulischen Druck und das Gefühl, „nicht richtig zu sein“. Erst mit Ende 40 wird aus diesem tiefen Gefühl der Überforderung eine Diagnose. „Ich hatte zwei Kinder. Für sie habe ich funktioniert. Aber wenn sie im Bett waren, war da diese riesige Erschöpfung, diese Hilflosigkeit.“ Ihr Mann ist damals beruflich viel unterwegs, erinnert sie sich. Sie habe alles allein machen und entscheiden müssen. Jeden Abend - aber manchmal auch tagsüber - bricht sie emotional zusammen. „Ich habe viel geweint.“
Vier Jahre Therapie folgen. Sie schien alles hinter sich gelassen zu haben.
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Als Risikofaktoren für eine Depression gelten neben Alkoholabhängigkeit und Zigarettenkonsum auch das Bildungsniveau, langanhaltende chronische Erkrankungen oder kritische, mit Stress verbundene Lebensereignisse. Aber auch: das Geschlecht. Frauen sind in allen Altersgruppen häufiger betroffen als Männer. Hormonelle Veränderungen nach der Geburt führen zum Beispiel bei bis zu 20 Prozent der Mütter zu einer postpartalen Depression.
Alltag bleibt unerledigt: Teufelskreis aus Traurigkeit
Als die Kinder aus dem Haus sind, als es im Job zu negativen Erfahrungen kommt, als dann noch die Corona-Pandemie sie zum Alleinsein zwingt, kommt alles zurück. „Es war ein Kraftakt zu entscheiden, einmal duschen zu gehen“, sagt die 67-Jährige. „Alles war Schwerstarbeit. Ich hing in einem tiefen Loch. Ich wusste, dass ich jetzt aufstehen müsste, dass ich Dinge zu erledigen hätte.“ Aber diese Tätigkeiten türmten sich zu einem unerklimmbaren Berg auf.
„Mir war klar, dass normale Menschen längst ihren Tag begonnen haben. Dass ich das nicht konnte, verursachte eine tiefe Traurigkeit, eine Schwere, die mich nur noch weiter runterzog. Ein Teufelskreis. Dieses Gefühl von Freude war nicht mehr da.“ Kurze Pause. „Nicht einmal die Vorstellung von Freude.“ Sie sagt, dass sie immer das Gefühl hatte, da wieder rauszukommen, allein, ohne Hilfe. Sie wusste ja, was sie plagt, wusste ja, wie Therapie funktioniert. Eine Freundin sagte ihr, dass sie offenbar nur noch in einer Art Überlebensmodus unterwegs sei, dass vielleicht ein Klinik-Aufenthalt helfen könne. „Das war eine riesige Erleichterung. Es war das Gefühl, gesehen zu werden...“
Warteliste beim Therapeuten: Von Rang 442 auf 172
Die neun Wochen Klinik enden 2022. Es folgen weitere Aufenthalte in 2023 und 2024. Einen Therapeuten für die dauerhafte Begleitung aber sucht sie vergeblich. Dutzende Therapeuten hat sie kontaktiert, auf mehrere Wartelisten hat sie sich setzen lassen. In einem Fall meldete sich die Praxis nach einigen Monaten und teilte ihr mit, dass sie nun Warteplatz 442 verlassen habe und nun auf Position 172 stehe. „Die Wartezeiten“, sagt sie, „sind grotesk, eine Katastrophe.“
Es gehe ihr jetzt nach der Rückkehr aus der Klinik viel besser, sagt sie. Sie sei aktiver, erlebe wieder Freude bei Treffen mit den Kindern, mit Freundinnen, bei Spaziergängen im Wald. Gefestigt ist sie, vermutlich niemals aber geheilt. „Ich würde mir wünschen, dass die Krankenkassen und die Regierung weitere Therapieplätze schaffen. Das war vor der Pandemie schon ein Problem und ist es jetzt erst recht.“ Und da wäre noch etwas: „Unsere Gesellschaft ist darauf ausgelegt, dass wir funktionieren. Es geht um Leistung, um Geld. Vielleicht sollten wir statt auf Wirtschaftswachstum eher auf Zufriedenheitswachstum schauen.“