Hövelhof. Heinz Stücke (84) hat alle 196 Länder auf der Welt mit dem Rad bereist. Er wollte nur zwei Jahre unterwegs sein - es wurden am Ende 51.
Als Weltenbummler Heinz Stücke vor zehn Jahren in seinen westfälischen Heimatort Hövelhof (Kreis Paderborn) zurückkehrte, hatte er in 51 Jahren 648.000 Kilometer mit dem Rad zurückgelegt und alle 196 Länder auf der Erde bereist. Gerade ist das Buch „Nur noch kurz die Welt sehen“ erschienen, bei Netflix läuft die Dokumentation „The man who wanted to see it all“. Die Wohnung des 84-Jährigen ist ein Museum der Erinnerungen. Unzählige Bilder seiner Nonstop-Weltreise zieren die Wände. In einem Raum steht das Rad, mit dem er die meisten Kilometer abgestrampelt hat: ein 26-Zoll-Fabrikat made in Westfalen mit Stahlrahmen, 3-Gang-Nabenschaltung und Rücktrittbremse, 25 Kilo schwer, bepackt bis zu 60. „Ich habe keine Langeweile“, sagt Stücke und schaut sich im Dia-Betrachter eine Aufnahme an: „Ich arbeite meine mehr als 100.000 Fotos und 15.000 Tagebuchseiten auf.“
Lieber Herr Stücke…
Bitte kein „Sie“. Ich bin Heinz, ich habe auf meinen Reisen gelernt, dass man sich duzt.
Na gut. Wo auf der Welt hat es Dir am besten gefallen?
„Das Schönste“ oder „Das Beste“ sind Kategorien, in denen nur Deutsche und Amerikaner denken. Ich mag das nicht. Ich stand zwar eine Zeitlang im Guinness Buch der Rekorde – als Mensch mit der längsten geradelten Strecke -, aber um Rekorde oder Leistungssport ist es mir nie gegangen.
Der Rad-Weltenbummler aus Westfalen: Die schönsten Bilder
Was war dann Dein Antrieb, als Du Dich nach Deiner Ausbildung zum Werkzeugmacher im November 1962 mit dem Rad auf große Tour begeben hast?
Ich wollte zu den Olympischen 1964 nach Tokio fahren, mich dann nach zwei Jahren wieder nach Hause begeben und mich an die Familiengründung machen. Okay, das Radfahren war schon immer meine große Leidenschaft. In den Schulferien bin ich gerne ins Sauerland gefahren. Und schon als Kind haben mich ferne Länder in Karl-May-Romanen fasziniert. Wenn man einige Länder gesehen hat, will man auch weitere entdecken und nicht in den bisherigen Alltag zurück. Mein Leben auf dem Rad war so interessant, so leicht, so begeisternd, so frei, dass ich irgendwann nicht mehr zurückwollte. Ich hatte ein tolles Leben unterwegs.
Du warst sogar in Nordkorea. Wie hast Du das geschafft?
Alle haben mir gesagt, dass ich das vergessen kann. Von 1988 bis 2000 hatte ich meine Basis in Hongkong, bin von dort durch ganz Asien geradelt. In der chinesischen Sonderverwaltungszone Macau traf ich eine nordkoreanische Handelsdelegation. Die sagte mir, dass man mit Geld alles organisieren könne: Minimum umgerechnet 600 Euro für ein 4-Tage-Visum. Ich bin also 1992 an die Grenze geradelt, wo mich ein Parteifunktionär in Empfang nahm. Er sprach exzellent Deutsch mit sächsischem Akzent und schaute mich mit großen Augen an – weil ich vier Tage zu früh war und ein Fahrrad dabeihatte. Fahrräder waren in Nordkorea verboten. Der Partei-Mann ist mir die ganze Zeit nicht von der Seite gewichen. Aber ich habe sogar mein Visum für vier Tage verlängert bekommen.
Muss man als Weltenbummler ein Überlebenskünstler sein?
Abgesehen davon, dass mir 1980 in Sambia ein Freiheitskämpfer in einen Zeh schoss, ich in Dschibuti fast verdurstet wäre und ich im Iran schwer an Typhus erkrankte: Man muss mit wenig leben können. Das Geld war schon mal knapp, aber ich war nie pleite. Man muss immer ein freundliches Gesicht zeigen und sich Zeit nehmen für Gespräche, damit die Leute einen unterstützen. Wenn man irgendwo mit einem Rad und einer Weltkarte daran aufkreuzt, öffnen sich viele Türen und einem wird der rote Teppich ausgebreitet. Von den 18.000 Nächten in den 51 Jahren habe ich etwa 5000 wild gezeltet, 5000 in billigen Hotels oder Pensionen geschlafen und 5000 in Privatwohnungen, in die ich eingeladen wurde – die Leute hatten mich angesprochen und ich ihnen meine Weltreisenden-Geschichten erzählt.
Hast Du zwischendurch unter Hunger gelitten?
Wenn man 80 bis 120 Kilometer am Tag gefahren ist, hat man immer Hunger. Aber ich hatte auf allen Kontinenten Menschen, die mir geholfen haben. In Afrika zum Beispiel traf ich Entwicklungshelfer und Missionare, die mich in ihre Camps einluden und mit Essen und Kleidung versorgten.
Hast Du Dich in allen Ländern an die nationaltypischen Gerichte gewagt?
Ich habe alles gegessen, was auf den Tisch kam. Ich wollte meine Gastgeber nicht beleidigen. Okay, die gebratenen Taranteln in Kambodscha habe ich zum Glück nicht angeboten bekommen. Die sahen echt eklig aus. In Japan wurden mir Ameisen in Schokoladensauce aufgetischt. Und in China wusste ich oft nicht, was ich esse. Dort wurde alles kleingehackt. Dennoch fand sich noch manch spitzer Knochen im Essen. Das hat einen Teil meiner Zähne ruiniert.
Apropos Gefahren: Mit dem Rad durch die entlegensten Winkel der Welt zu fahren, dürfte nicht immer ungefährlich gewesen sein.
Generell ist das Radfahren im Straßenverkehr mit Gefahren verbunden. Daher ist das Allerwichtigste der Rückspiegel. Der hat mir mehrfach das Leben gerettet.
Wie hast Du Deine Reise finanziert?
Unter anderem, in dem ich Broschüren mit Fotos und Reisebeschreibungen in verschiedenen Sprachen drucken ließ und Interessierten schenkte. Oft erhielt ich als Dankeschön eine Spende. Irgendwann kamen auch Sponsoren hinzu. Zudem habe ich meine Reisebilder und meine Geschichte an Illustrierte verkauft. Irgendwann stand ich bei einer Londoner Bildagentur unter Vertrag. Rate mal, wie ich meine Aufnahmen dorthin bekommen habe?
Keine Ahnung. Digitalkameras gab es damals ja noch nicht.
Richtig. Ich bin zu Flughäfen gegangen und habe geschaut, wann Maschinen nach London starten. Dann habe ich Reisenden Briefumschläge mit meinen Filmen in die Hand gedrückt – darauf die Adresse der Agentur. Viele lehnten ab. Sie dachten, dass ich sie als Drogenschmuggler missbrauchen wolle. Die meisten Umschläge sind tatsächlich bei der Agentur angekommen.
Neben Dir steht ein Weltempfänger. Hast Du den auch unterwegs genutzt?
Täglich. Am entferntesten Punkt der Welt hatte ich Kurzwellen-Empfang, hier nicht. Unfassbar! Ich habe die britische BBC, Radio France Internationale oder Voice of America gehört und wusste alles über das Weltgeschehen. Selbst im Urwald. Das Radiohören hat mir natürlich auch geholfen, meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Heute höre ich immer abends zwischen 22 Uhr und Mitternacht die „Musik zum Träumen“. Da werden die Ohrwürmer aus der Zeit gespielt, als ich in die Welt aufgebrochen bin.
Warum bist Du nach 51 Jahren in Deine ostwestfälische Heimat zurückgekehrt?
Auch wenn sich eines Tages bei mir Heimangst statt Heimweh eingestellt hatte: Irgendwann muss trotzdem mal Schluss sein. Wenn man 51 Jahre lang unterwegs ist, hat man kein Zuhause. Aber ich hatte ja noch meinen Heimatort Hövelhof, auch wenn ich 51 Jahre dort nicht gewesen war. Die Gemeinde stellt mir dankenswerterweise eine ehemalige Hausmeisterwohnung mietfrei zur Verfügung. Ich hoffe, sie wird eines Tages zu einem öffentlichen Museum – schließlich habe ich noch so viele Souvenirs von meinen Reisen. Ich habe zwischendurch reihenweise Reiseandenken per Paketdienst an meine Schwester geschickt.
Du bist derzeit bettlägerig. Was ist los?
Durch meine Arthrose in den Hüften, die wahrscheinlich genetisch bedingt ist, fällt mir das Gehen schwer. Aber richtig umgehauen hat mich ein Sturz in meiner Wohnung vor kurzem. Seitdem habe ich an einem Bein eine offene Wunde. Weil ich liege, schlaffen die Muskeln ab, so dass ich derzeit nicht stehen kann. Ich werde gut versorgt, muss aber die Behandlung aus eigener Tasche bezahlen. Eine Krankenversicherung habe ich ja nie gebraucht.
Wer versorgt Dich?
Leute aus dem Ort schellen an und bringen mir Leckerlis vorbei. Eine Nachbarin macht tolle Donauwellen. Und ich bekomme ständig Besuch von Menschen aus der ganzen Welt, die ich auf meinen Reisen kennengelernt habe. In meiner Kladde habe ich 1000 Telefonnummern und fast 5000 Adressen. In diesem Jahr waren schon 100 Gäste hier, und ich werde oft angerufen. Für viele, die aussteigen wollen, bin ich wie ein Guru.
Du hattest ein tolles Leben…
Was heißt hier „hattest“? Ich lebe doch noch. In meinen Reisen.
Info: Das Buch „Nur noch kurz die Welt sehen“ von Carina Wolfram ist im Bielefelder Delius Klasing Verlag erschienen und kostet 24,90 Euro.
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