Bergneustadt. Wendy Potzaleks Sohn (9) bestimmt den Alltag seiner Mutter, ihres Partners und seiner Schwester. Wie alle vier etwas Außergewöhnliches meistern.
Schon beim Aufstehen kann man viel falsch machen. Noah (9) ist schnell verärgert, wenn die Dinge nicht wie immer ablaufen. „Beim Aufstehen gilt es, eine klare Struktur einzuhalten“, sagt seine Mutter Wendy Potzalek. Nachdem sie ihren Sohn um kurz vor sieben aufgeweckt hat, wird die Jalousie hochgezogen, während Hundedame Bacci den Neunjährigen anstupst. Anschließend wird jedes einzelne seiner acht Lieblingskuscheltiere aus dem Bett mit ins Wohnzimmer genommen, in Reih und Glied aufgestellt und nacheinander begrüßt – dabei wird selbstverständlich eine exakte Reihenfolge eingehalten. Mit Freude beobachtet Noah die Prozedur Tag für Tag.
Noah verhielt sich anders als andere Babys
Vor anderthalb Jahren wurden bei ihm Autismus sowie eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) festgestellt. Dass sein Verhalten auffällig ist, hat seine Mutter schon früh gemerkt. „Ein paar Monate nach der Geburt habe ich gemerkt, dass da etwas nicht stimmt“, erinnert sie sich zurück. Die anderen Babys krabbelten herum, ihr Noah nicht – ein früher Vorbote seiner Entwicklungsstörung, die alles verändert. Nicht nur für ihn und seine Mutter, sondern auch für seine Halbschwester Iliana Caspari (18) und den neuen Partner der Mutter Marvin Dick (30).
Eine Entwicklungsstörung, eine Familie, vier Perspektiven.
Wenn Noah sich einer Sache hingibt, dann voll und ganz. Dann weiß er alles zu dem Thema, dann spricht er nur noch darüber. Derzeit hat er nur noch Pokémon im Kopf. Morgens, mittags und abends dreht sich seine Welt um die japanischen Taschenmonster – sei es als YouTube-Folge auf dem Fernseher, als Computerspiel oder als Sammelkarte.
Autismus: Wenn begeistert, dann richtig
Stolz präsentiert er die Vielfalt an Kuscheltier-Monstern, die er besitzt, und holt seine Lieblinge aus dem gut gepflegten Kartenalbum. Eine detaillierte Beschreibung von Glumandas Spezialattacken und eine Huldigung ihrer Weiterentwicklungen zum „superstarken Glurak“, wie Noah sagt, folgt selbstverständlich umgehend. Am besten ist es, wenn alle seine Begeisterung für das entsprechende Thema teilen. Das gehöre zu seinem tagtäglichen Unterhaltungsprogramm, sagt die Mama.
Wendy Potzalek schafft es alle paar Tage mal zum Sport, viel Raum für weitere Hobbies gäbe es aber nicht. „Mein gesamter Alltag ist auf ihn ausgelegt und alles dreht sich um seine Bedürfnisse“, sagt sie: „Das ist nicht immer einfach.“
„Er reagiert wütend und weint schnell und viel, sobald etwas nicht läuft wie immer. Er versteht vieles einfach nicht.“
Mit Routine beginnt der Tag – mit Routine endet der Tag. Sobald auch nur eine Kleinigkeit nicht wie gewohnt verläuft, werden in Noah die Alarmglocken ausgelöst. „Mit der Mama streite ich mich manchmal, das ist aber schnell vergessen. Wir spielen alle jeden Tag zusammen, mal drinnen und mal draußen“, sagt Noah. Das sind die sehr guten Momente. „Er reagiert wütend und weint schnell und viel, sobald etwas nicht läuft wie immer. Er versteht vieles einfach nicht“, sagt seine Mutter.
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Am Mittag, wenn Noah aus der Schule kommt, klopft er an der Tür und wird von Bacci, der Romaner Antikdogge, begrüßt. Am Abend schauen sie zusammen 30 Minuten vor dem zu Bett gehen gemeinsam einen Film oder eine Serie, oft immer wieder die gleiche Folge. Noah möchte jeden Abend abwechselnd von seiner Mutter und deren Partner ins Bett gebracht werden. Wird eine dieser Routinen durchbrochen, ist Noah für mehrere Stunden nicht ansprechbar.
Klare Kommunikation und Wiederholung müssen sein
Da sein Wortschatz im Kindergartenalter sehr begrenzt war, haben Noah und seine Mutter mit einem selbstgebastelten Kartensystem kommuniziert. Wenn der Besuch bei den Großeltern anstand, zeigte sie ihm die Karte mit einem Foto der beiden. War ein Einkauf geplant, deckte sie das Aldi-Symbol auf. Nach kurzer Zeit in einem städtischen Kindergarten war klar, dass er sich nicht an das Lernniveau der Gleichaltrigen anpassen konnte. Er bekam einen Platz in einem inklusiven Kindergarten mit einer Einzelfallhilfe, die sich individuell auf seine Bedürfnisse eingestellt hat.
„Ich bin dankbar, dass ich weiß, was er hat und wie ich ihm helfen kann. Mich hat das nicht heruntergezogen, ich habe die Situation angenommen, wie sie war.“
Trotz der vielen Einschränkungen wurde die Beeinträchtigung bei Noah nicht sofort anerkannt, da er bei den ersten Tests in einem Sozialpädiatrischen Zentrum zunächst nicht ausreichend viele Bedingungen erfüllte. Im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung bekam die Familie endlich Klarheit. „Ich bin dankbar, dass ich weiß, was er hat und wie ich ihm helfen kann. Mich hat das nicht heruntergezogen, ich habe die Situation angenommen, wie sie war“, sagt Wendy Potzalek, die zwischen den beiden Geburten als Bäckereifachverkäuferin und im Einzelhandel tätig war. Durch die Diagnose haben sich Möglichkeiten für Weiterentwicklung ergeben: Er besucht seit zwei Jahren eine Förderschule.
Diagnose ist gestellt, aber kein Therapieplatz in Sicht
Die Diagnose ist zwar gestellt, auf einen Platz für eine Autismustherapie wartet die Familie aber immer noch. Noah wird medikamentös behandelt – vor allem mit Ritalin, was seine ADHS-Erkrankung im Zaum hält. „Wenn Noah in der Schule oder unter Menschen ist, ist er wie maskiert und will sich nichts anmerken lassen. Er versucht sich zu verstellen und das strengt ihn sehr an“, sagt seine Mutter. Zu Hause würde er diese Maskierung ablegen und dann käme alles raus, was er den Tag über zurückgehalten hätte.
Die große Schwester Iliana wünschte sich immer einen kleinen Bruder. „Ich wusste nicht, wie ich mit seiner Beeinträchtigung umgehen soll“, sagt die heute 18-Jährige. „Meine Mutter hat es mir erklärt. Das hat mir geholfen, es zu verstehen.“ Inzwischen gehen die Geschwister auch alleine Einkaufen oder zum Spielen nach draußen.
Früher sei die Lage öfter eskaliert, heute weiß Iliana, was zu tun ist. „Man muss viel mit ihm reden und ihm Dinge immer wieder erklären und ganz klar und deutlich machen.“ Oft macht es ihn schon glücklich, wenn sie ihm beim Trampolin springen oder Fußball spielen zuschaut.
„Ich fühlte mich oft so, als wäre ich auf mich alleine gestellt. Zurückstecken gehörte fast schon zum Alltag.“
Sie hat Zeit gebraucht, um das alles zu verstehen, um es zu akzeptieren. Sie ist ja selbst noch ein Kind gewesen, eine Jugendliche mit Bedürfnissen. „Ich fühlte mich oft so, als wäre ich auf mich alleine gestellt. Zurückstecken gehörte fast schon zum Alltag“, sagt sie nachdenklich. Dann fügt sie an: „Ich habe ihn in mein Herz geschlossen. Egal wie er sich entwickelt, ich werde immer hinter ihm stehen.“
Von anfänglichen Zweifeln bis zur Vaterfigur
Zweifel quälten Marvin Dick. „Ist es das Richtige? Bin ich der Aufgabe gewachsen?“ Diese Fragen gingen ihm durch den Kopf, als er immer mehr Zeit mit allen verbrachte. Er war doch eigentlich nur der Freund der Mutter - und nicht auch noch Vaterfigur für einen Jungen mit Autismus.
Er wusste vor fünf Jahren nicht genau, was Autismus genau ist und mit sich bringen kann. „Nach einem halben Jahr rief er ‚Papa, komm frühstücken‘ und seitdem besteht kein Zweifel mehr für mich. Es hat eine Zeit lang gedauert, aber ich weiß jetzt, dass er mich akzeptiert und braucht“, sagt Marvin Dick.
Nach der Arbeit, ab 17 Uhr, ist gemeinsame Spielzeit. Konsole oder Karten – das hängt von Noahs Tagesform ab. „Meine Freizeit ist sehr begrenzt, da ich viel Zeit in den Jungen investiere. Aber ohne ihn kann ich mir meinen Alltag nicht mehr vorstellen“, sagt er. Es läuft gut im Moment. Wie das in Zukunft mal wird? Weiß keiner so genau. Vielleicht ist das im Moment auch gar nicht so wichtig. „Heute“, sagt Marvin Dick, „heute ist er mein Sohn.“