Arnsberg. Ein Ex-Geschäftsführer soll über Jahre Firmengelder in Millionen-Höhe veruntreut haben. Doch der Prozessstart hakt gewaltig.

Er war gar nicht vor Gericht erschienen, soll unentschuldigt gefehlt haben zum Auftakt in diesen Prozess, der alle Zutaten für einen Wirtschaftskrimi hat. Und dennoch stand der Hauptangeklagte am Dienstagvormittag in Abwesenheit im Mittelpunkt eines fragwürdigen Schauspiels in Saal 3 des Landgerichts Arnsberg.

Etwa drei Stunden lang wurde dort ab 9:15 Uhr vor der Wirtschaftsstrafkammer über den ehemaligen Infineon-Manager verhandelt, der bei einem Tochterunternehmen des größten deutschen Halbleiterherstellers mit Sitz in Warstein über Jahre Firmengeld in zweistelliger Millionenhöhe unterschlagen haben soll. Früher galt er als ein Mann mit einem guten Ruf in Industriekreisen und hatte auch schon einmal eine Wirtschaftsdelegation mit dem damaligen Bundesminister Sigmar Gabriel an der Spitze nach Vietnam begleiten dürfen. Nun blieb er am Dienstag dem bereits dreimal verschobenen Start in den Prozess fern, und auch zwei seiner drei Verteidiger erschienen nicht.

Es ist ein Hin und Her und ein Hin und Her.
Vorsitzende Richterin Dorina Henkel - Landgericht Arnsberg

Prozessteilnehmer wittern „Zeitspiel“

Nach mehreren Unterbrechungen und Telefonaten sowie Diskussionen um Atteste, die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, dessen – laut Kammer und Staatsanwaltschaft unentschuldigtes – Fehlen und eine mögliche polizeiliche Vorführung unterbrach die Vorsitzende Richterin Dorina Henkel die Verhandlung um 11:45 Uhr mal wieder, diesmal mit der Bemerkung: „Es ist ein Hin und Her und ein Hin und Her.“ Andere Prozessteilnehmer witterten gar ein „Zeitspiel“ der Verteidigung, die sich nur eingeschränkt entscheidungsfähig sah, weil der weisungsbefugte Hauptverteidiger nicht anwesend sei.

Um 12:05 Uhr gab das Gericht schließlich vorläufig auf, zog sich zu einem nicht öffentlichen Erörterungsgespräch mit den Anwälten zurück und vertagte den Start der Hauptverhandlung auf den 21. Mai. Dann soll es weiter- beziehungsweise losgehen – in Anwesenheit des Hauptangeklagten, der in zwei Wochen per Vorführbefehl und „mit dem polizeilichen Taxi“ nach Arnsberg gebracht werden soll, wie Richterin Henkel ankündigte. Auch eine Untersuchung durch einen Amtsarzt stellte die Vorsitzende in Aussicht, sollte der ehemalige Infineon-Manager kurz vor der Verhandlung erneut Unwohlsein verspüren. Diesmal habe man auf die polizeiliche Vorführung des Hauptangeklagten noch einmal verzichtet, da man die „Zweifel“ an dessen derzeitigem Gesundheitszustand „nicht belegen“ könne, so die Vorsitzende Richterin, die bilanzierte: „Heute haben wir nichts gemacht außer die Anwesenheitsfeststellung.“ Auch zur Verlesung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft kam es nicht.

Es verwundert mich, dass man einen nachweislich erkrankten Menschen mit Biegen und Brechen herzitieren möchte.
Karsten Possemeyer - Verteidiger des Hauptangeklagten

Verteidiger verweist auf Attest

Stattdessen war es im Kern um die strittige Frage gegangen, ob der Hauptangeklagte verhandlungsfähig sei. Nein, fand Verteidiger Karsten Possemeyer. Er sagte der WESTFALENPOST in einer der Unterbrechungen: „Es verwundert mich, dass man einen nachweislich erkrankten Menschen mit Biegen und Brechen herzitieren möchte.“ Von Zeitspiel könne keine Rede sein, es liege ein Attest vom 30. April vor, das seinem Mandanten Verhandlungsunfähigkeit bescheinige.

Laut Gericht hatte allerdings eine Gutachterin am Dienstagmorgen, wohl etwa zwei Stunden vor Prozessbeginn, den Hauptangeklagten untersucht und weder eine Verhandlungs- noch eine Reiseunfähigkeit erkennen können, dafür aber eine „Dramatisierung“ bei den Schilderungen des Hauptangeklagten. Dieser sei, so erklärte es das Gericht und bestätigte es Verteidiger Possemeyer, zu der Untersuchung bei der Gutachterin am Morgen noch selbst mit dem Auto gefahren. Zur Verhandlung nach Arnsberg habe er dann jedoch aufgrund seiner Beschwerden nicht reisen können. Das eine sei eine „Kurzstrecke“, das andere wäre eine etwa einstündige „Langstrecke“ gewesen, erklärte dazu Verteidiger Possemeyer. Er betonte aber, dass sein Mandant bereit sei, sich dem Verfahren zu stellen, könne dies aber auch aufgrund seit dem Vortag verschriebener neuer Medikamente und Durchfall diesmal nicht vor Ort tun.

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Vorwurf: Millionen veruntreut

Der Hauptangeklagte saß seit dem Jahr 2007 in der Geschäftsführung der Infineon Technologies Bipolar GmbH & Co. KG in Warstein, einem Tochterunternehmen von Infineon und des Elektro- und Energietechnikherstellers Siemens Energy AG. Im Juni und Dezember 2022 erhob die Staatsanwaltschaft Arnsberg Anklage gegen den früheren Geschäftsführer, dem unter anderem Untreue, Urkunden- und Bilanzfälschung sowie Verrat von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen zur Last gelegt wird. Zeitraum der angeklagten Taten: 2016 bis 2021.

Die erste Anklage wirft dem Ex-Geschäftsführer vor, zwischen 2015 und 2018 Firmengelder in Höhe von 7,5 Millionen Euro auf ein von ihm bei einer Anwaltskanzlei angelegtes Treuhandkonto abgezweigt zu haben. Die Mittel sollen in private Immobiliengeschäfte geflossen und darüber hinaus für den Eigengebrauch genutzt worden sein.

Nach Informationen der WESTFALENPOST hatte sich der nun Angeklagte im September 2020 wegen des Treuhandkontos selbst bei seinem Arbeitgeber offenbart. Dieser stellte daraufhin Strafanzeige und kündigte ihm. Mit Hilfe einer Anwaltskanzlei ermittelte das Unternehmen, das an dem Verfahren als Nebenkläger beteiligt ist, weitere Unregelmäßigkeiten, die offensichtlich zu der zweiten Anklage führten.

Mitangeklagte erscheinen

Demnach soll der Ex-Geschäftsführer mit Firmengeldern zwei insolvente Zulieferbetriebe aus Süddeutschland (metallverarbeitende Industrie) erworben haben. Und das trotz eines Vetos des Aufsichtsgremiums. Nach einiger Zeit soll er anstelle einer Bankfinanzierung der Zuliefererbetriebe direkte Darlehen der Infineon Technologies Bipolar in Höhe von 6,7 Millionen Euro verwendet haben.

Für die beiden Lieferbetriebe soll er, so der Vorwurf, ohne Wissen anderer Vertreter seines Unternehmens eine Holding-Gesellschaft gegründet haben, aus der er einen siebenstelligen Geldbetrag für eigene Zwecke abgezweigt haben soll. Als Geschäftsführerin der Holding soll er eine Freundin eingesetzt haben. Diese und ihr Mann müssen sich ebenfalls vor Gericht verantworten wegen des Vorwurfes der Beihilfe zur Untreue.

Das Duo war im Gegensatz zu dem Hauptbeschuldigten am Dienstag zur Verhandlung erschienen. Der Prozess gegen die drei Angeklagten hatte eigentlich am 16. April starten sollen, wurde jedoch seitdem wiederholt verschoben, weil der Hauptangeklagte wegen seiner – in der öffentlichen Verhandlung nicht benannten – Erkrankung im April habe operiert werden müssen. Der Eingriff habe aber aufgrund eines fiebrigen Infekts des Hauptangeklagten verschoben werden müssen. Neuer Termin für die Operation ist laut Gericht der 24. Juni – zehn Tage nach der ursprünglich geplanten Urteilsverkündung. Laut Verteidiger Possemeyer sei aber auch ein OP-Termin im Mai im Gespräch. Was das für das Verfahren bedeuten würde, ist offen.