Tel Aviv. Seit einem halben Jahr ist der Sohn von Gilad Korngold in der Gewalt der Hamas. Ob er je freikommt, ist ungewiss. Nun wächst die Wut.
Gilad sieht müde aus, seine Augen sind gerötet. Nur hin und wieder blitzt ein leiser Zorn aus ihnen. Zum Beispiel, wenn der 62-Jährige das Amulett, das er an einem Halsband trägt, in die Hand nimmt und sagt: „Das werfe ich in den Mülleimer, wenn Tal zurückkommt.“ Tal ist Gilads Sohn. Sein Name ist auf dem Amulett eingraviert. „Das haben wir selbst anfertigen lassen“, sagt Gilad. Damit Tal immer bei ihm ist, wenigstens symbolisch.
An Tals 39. Geburtstag Ende Januar konnte Gilad ihn nicht umarmen, ihn nicht einmal anrufen, um ihn zu beglückwünschen. Sein letztes Gespräch mit Tal hat Gilad am 7. Oktober geführt. Da heulten die Sirenen im Hintergrund, Raketen hagelten auf Israel, so viele wie noch nie. Tal war im Schutzraum des Hauses im Kibbutz Be‘eri, in dem die Eltern seiner Frau Adi lebten.
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Tal, Adi und die beiden kleinen Kinder waren aus dem Norden Israels angereist, um hier das jüdische Fest Simchat Thora zu feiern. Es ist ein Fest der Freude, doch das Telefonat, das Tal mit Gilad am Morgen des 7. Oktober führte, war voller Angst und Schrecken. „Papa, da sind Eindringlinge im Haus“, sagte Tal. Das waren die letzten Worte, die Gilad von seinem Sohn hörte – vor einem halben Jahr.
Gaza: Fünfzig Tage waren sie in der Gewalt der Terroristen
Heute hängen Fotos von Tal an Wänden im ganzen Land, inmitten der Bilder der anderen 134 Geiseln, die immer noch in Gaza gefangen sind. Wer von ihnen noch lebt? Laut Schätzungen der Armee sind es 90 – aber ganz genau weiß das niemand. Tals Frau Adi und die Kinder, der achtjährige Naveh und die dreijährige Yahel, sind gleich auf mehrfache Weise Opfer des 7. Oktober. Sie mussten nicht nur mitansehen, wie ihr Ehemann und Vater von den Terroristen gekidnappt wurde. Sie wurden auch selbst nach Gaza verschleppt, gemeinsam mit Adis 67-jähriger Mutter – sie alle sind deutsche Staatsbürger.
Fünfzig Tage lang harrten sie in der Gewalt der Terroristen aus. Die Kinder wussten nicht, ob ihr Vater ebenfalls als Geisel in Gaza festgehalten wurde oder sofort von den Terroristen getötet worden war. Erst als sie Ende November im Zuge eines Deals zwischen Israel und der Hamas befreit und zurück nach Israel gebracht wurden, erfuhren sie, dass Tal in Gaza war. Und dass Adis Vater am 7. Oktober ermordet worden war.
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„Keine Ahnung, was die Terroristen mit ihnen angestellt haben“
Gilad erinnert sich an den Tag der Befreiung seiner Schwiegertochter und Enkelkinder. „Wir warteten im Krankenhaus auf sie, voller Angst davor, wie sie aussehen würden – wir hatten ja keine Ahnung, was die Terroristen mit ihnen angestellt haben“, erzählt er. „Sobald sie die Grenze nach Israel passiert hatten, gab man ihnen ein Telefon, damit sie uns anrufen können. Naveh meldete sich bei mir und fragte sofort, ob ich weiß, wo sein Hund ist. Ich sagte ihm natürlich nicht, dass sein Hund im Haus im Kibbutz verbrannt ist. Ich sagte nur: Warte noch, darüber sprechen wir, wenn wir uns sehen.“
Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl
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Die dreijährige Yahel stand unter schwerem Schock, der sich erst allmählich legte, erzählt Gilad. „Sie sprach nicht, oder nur ganz leise. Die Terroristen hatten ihr verboten zu reden.“ Fast drei Wochen lang dauerte es, bis sie das Flüstern ablegte.
Nun leben alle in einem Hotel in Herzliya nahe Tel Aviv: Gilad, seine Frau, Adi und die Enkelkinder – alle zusammen. Gilad könnte zurückkehren in seinen Kibbuz nahe Gaza, anders als andere Dörfer wurde er nicht verwüstet. Aber er will es nicht. „Solange Tal nicht hier ist, bleibe ich bei Adi und den Kindern, um ihnen beizustehen“, sagt er.
Bei den Enkeln von Gilad kommen nachts die Albträume
Im Hotelzimmer haben sie einen „Tisch der Hoffnung“ aufgebaut, mit einem Foto von Tal, vor dem sie jeden Abend stehen, Kerzen anzünden und beten. „Die Kinder machen eine Zeichnung oder schreiben eine Botschaft, die sie auf den Tisch legen.“ Es ist ein Ritual, das ihnen Halt geben soll. Denn an jedem Tag, so erzählt Gilad, „wird es schlimmer“ – vor allem jetzt, da ihnen klar wird, dass der Vater schon ein halbes Jahr in Gaza ist. „Sie wissen ja genau Bescheid, wie es dort zugeht – niemand kann ihnen Märchen erzählen.“
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Vor allem nachts breche es aus den Kindern heraus. „Dann werden die Erinnerungen wach.“ Dann kommen die Albträume, die Tränen. Was die Kinder mitansehen mussten, als sie am 7. Oktober aus dem Kibbutz Be‘eri verschleppt wurden, wäre schon für einen Erwachsenen zu viel, um es zu verarbeiten: erschossene Menschen, brennende Häuser, Vergewaltigungen – und Dutzende Terroristen, „die nur dastanden, lachten, rauchten und sich so fühlten, als gehöre der Kibbutz ihnen – und vielleicht war das auch so“. Weit und breit kein israelischer Soldat, der die Bewohner beschützt hätte.
Die Familie klagt Israels Regierung an, nicht genug zu tun
„Sie haben uns im Stich gelassen“, sagt Gilad verbittert, „und sie lassen uns auch heute im Stich.“ Er meint die Regierung unter Benjamin Netanjahu. Die vielen Verhandlungsrunden, die Israels Delegation in Katar und Kairo führte, um endlich auch die übrigen Geiseln zu befreien – sie alle verliefen im Nichts.
Wie die meisten anderen Angehörigen der Geiseln glaubt auch Gilad, dass Israels Regierung gar kein Interesse daran hat, die Verschleppten zurück nach Israel zu bringen. „Sie zögern die Verhandlungen bis in alle Ewigkeit hinaus“, sagt er. Wenn es nach den Verhandlern selbst ginge, also den israelischen Geheimdiensten, gäbe es längst eine Lösung, sind viele der Geisel-Familien überzeugt. Der Regierung, und vor allem Netanjahu, gehe es hingegen nur darum, weiter an der Macht zu bleiben – und den Krieg in die Länge zu ziehen.
Gilad geht deswegen mit den anderen Familien auf die Straße und protestiert. Er, der 62-Jährige, Sohn einer Holocaustüberlebenden aus Wien, der schüchterne ältere Mann, der laut eigenen Erzählungen sein Leben lang auf keiner einzigen Demonstration war, steht jetzt auf Bühnen, umgeben von Menschenmassen, und hält Reden, empfängt den Applaus Tausender Menschen.
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Von Deutschland erwartet Gilad mehr Druck für einen Geisel-Deal
Durchs Mikrofon und über die Lautsprecher richtet er dann seine Botschaft an die israelische Regierung. Er findet dafür klare, harte Worte: „Wenn ihr euch nicht um die Geiseln kümmern wollt, dann gebt eure Söhne und Töchter der Hamas und lasst sie dort verrecken, aber gebt mir meinen Sohn zurück!“
Wenn man Tals Foto ansieht, fällt sofort auf, wie sehr er seinem Vater aus dem Gesicht geschnitten ist. Die wachen Augen, der verschmitzte Mund. „Ich versuche, nicht zu viel an ihn zu denken, es tut sonst so weh“, sagt Gilad. Nachts nimmt er Schmerzmittel, um wenigstens vier Stunden Schlaf zu bekommen. Und tagsüber fährt er nach Tel Aviv, protestiert, gibt Interviews, spricht mit Politikern und Botschaftern.
Von Deutschland und anderen europäischen Staaten erwartet Gilad, dass sie mehr Druck für einen Geisel-Deal ausüben. „Wenn ihr es nicht für mich tut, dann tut es für die Menschen in Gaza“, sagt er. „Wenn euch die Not der Menschen in Gaza am Herzen liegt, dann sage ich euch eines: Wenn alle Geiseln frei sind, ist auch dieser Krieg sofort vorbei.“