Herzlia. Das Trauma in Israel sitzt tief. Die Psychologin Ilana Eilasi betreut Überlebende des Hamas-Terrors. Viele sagen jetzt: „Wir oder die.“

IIana Eilasi sitzt im Wohnzimmer eines Freundes in der Beeri-Straße in Herzlia bei Tel Aviv. Hier hat sie Obdach gefunden. Ausgerechnet in der Beeri-Straße. Im Kibbuz Beeri starben bei der Terrorattacke über 120 Menschen. Es ist, als ob der Horror Ilani Eilasi bis dahin verfolgt, wo sie in Sicherheit ist. Die 58-Jährige ist Psychologin, sie hat in den vergangenen Jahren im Kibbuz Gevim in der Nähe von Sderot gelebt, knapp vier Kilometer entfernt von der Grenze zum Gazastreifen. Die Menschen in ihrem Kibbuz haben Glück gehabt. Als ein Terrorkommando am frühen Morgen in den Ort eindringt, wird es von einem Offizier aufgehalten, der in dem Kibbuz lebt und gerade auf dem Weg zur Arbeit ist. „Er liegt jetzt im Krankenhaus“, sagt Eilasi lakonisch.

Von Gevim ist es nicht weit nach Kfar Aza. Der Ort ist zu einem Symbol der Katastrophe geworden, die am 7. Oktober über Israel hereingebrochen ist. Mehr als 100 Menschen hat die Hamas in Kfar Aza ermordet. Ilana Eilasi versucht, den Überlebenden Kraft zu geben und ihnen Trost zu spenden. Sie hat dort gearbeitet, sie kennt viele der ursprünglich etwa 400 Einwohner. Sie zeigt auf ihrem Telefon Bilder. Beim Foto eines blutverschmierten Kinderbetts atmet sie schwer. Jeder Mensch, mit dem man derzeit in Israel spricht, hat Bilder der Katastrophe auf dem Telefon, die sozialen Medien sind voller Geschichten über die mehr als 1300 Toten und über die mehr als 150 Verschleppten.

„Sie reden viel miteinander, umarmen sich oft.“

Die Überlebenden von Kfar Aza sind jetzt im Kibbuz Schefajim untergebracht. Eilasi geht jeden Tag zu ihnen, versucht, ihnen beizustehen. „Ich weiß, was sie durchmachen. Sie müssen wissen, dass sie nicht allein sind“, sagt sie. Die Überlebenden versuchen, den erlebten Wahnsinn zu verarbeiten. „Sie reden viel miteinander, umarmen sich oft.“

Lesen Sie auch:Was ist eigentlich ein Kibbuz?

Mona bellt laut, aufgeregt, mit weit aufgerissenen Augen. Ilana Eilasi schaut die kleine Hündin mitleidig an, redet beruhigend auf sie ein, streichelt sie, seufzt. „Sie ist auch traumatisiert.“ Im Fernsehen läuft eine Talkshow, immer wieder werden Bilder aus Kfar Aza eingeblendet. Autowracks, schwarz verrußte Häuserruinen. Kfar Aza, glaubt Eilasi, werde nie wieder aus den Ruinen auferstehen. Die Überlebenden beerdigen ihre Toten nicht auf dem Gelände des Kibbuz. Sie wollen nicht mehr zurückgehen.

Die mörderische Terrorattacke der Hamas auf die Gemeinden in der Nachbarschaft des Gazastreifens ist mittlerweile mehr als eine Woche her. Das erlebte Grauen und der Krieg sind überall präsent. Immer wieder feuert die Hamas Raketen, immer wieder heulen im Süden des Landes Sirenen auf, flüchten sich Menschen in Schutzräume. An der Grenze zum Gazastreifen hat die israelische Armee eine gewaltige Streitmacht aufgefahren, bereit zum Einmarsch. Die Luftwaffe fliegt unentwegt Angriffe. Hunderttausende sind in dem dicht bevölkerten Landstrich auf der Flucht. In Israel ist der anfängliche Schockzustand einer Mischung aus Wut, Angst und Trauer gewichen.

Die Erinnerung an den Holocaust durchdringt die israelische Gesellschaft

Die Terrorattacke hat die tiefen Gräben, die die Politik der rechtsgerichteten Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu aufgerissen hat, zugeschüttet. Lange anhalten werde das aber nicht, glaubt Eilasi. Israel, sagt sie, sei ein „psychotisches Land“, in dem die Menschen verlernt hätten, miteinander zu sprechen. Und eines, das ohnehin unter vielen Traumata leide. Die Erinnerung an den Holocaust durchdringt die Gesellschaft. Eilasi selbst hat den Sechs-Tage-Krieg und den Jom-Kippur-Krieg erlebt, sie hat sich immer wieder in Gevim in den Schutzraum ihrer Wohnung retten müssen, wenn die Sirenen vor Raketen warnten. Ob sie es schaffen wird, mit dem neuen Trauma fertigzuwerden? „Ich hoffe, dass ich eine starke und widerstandsfähige Frau bin“, sagt sie.

Nach dem Anschlag: Israelische Soldaten patrouillieren durch den Kibbuz Kfar Aza, wo mehr als 100 Menschen durch Hamas-Terroristen getötet wurden.
Nach dem Anschlag: Israelische Soldaten patrouillieren durch den Kibbuz Kfar Aza, wo mehr als 100 Menschen durch Hamas-Terroristen getötet wurden. © AFP | MENAHEM KAHANA

Trotz der mörderischen Attacke ist Eilasi nicht voller Wut auf die Menschen im Gazastreifen, sie hat keine Rachegelüste. „Ich hasse die Palästinenser nicht, ich habe Mitleid mit ihnen“, sagt sie. Sie ist gegen die Bodenoffensive. „Sie wird das Leben von so vielen Soldaten und unschuldigen Zivilisten kosten.“ Mit dieser Meinung dürfte die Psychologin in Israel in der Minderheit sein.

Die Schabbat-Feiern sind kürzer als sonst

In Aschkelon sind die Straßen am Samstag so gut wie menschenleer. Viele Einwohner haben die Großstadt nördlich des Gazastreifens aus Angst vor den anhaltenden Raketenangriffen aus dem Gazastreifen verlassen. Allein am Freitag ist die Stadt 50 Mal attackiert worden. Diejenigen, die geblieben sind, verbringen viel Zeit in ihren Wohnungen. Die Schabbat-Feiern sind kürzer als sonst. Yoav Weiss (54) und Yossi Amirian (29) gehen mit ihren Hunden auf der Eli-Cohen-Straße im Viertel Neve Ilan spazieren. Die beiden Männer wollen Vergeltung für den Terror.

Weiss trägt an seinem Gürtel einen Revolver, eine 357er-Magnum. „Das ist ein Elefantenstopper“, sagt er mit sanfter Stimme. Die beiden sind einer Meinung. Sie wollen, dass nicht nur die Hamas vernichtet wird, sondern auch die libanesische Hisbollah. Mitleid mit den Menschen in Gaza haben sie wenig. „Wir wissen, dass es auch in Gaza Menschen gibt, die Frieden wollen“, sagt Amirian. „Aber jetzt heißt es: Wir oder die.“ Ihre Frauen arbeiten im Krankenhaus von Aschkelon. „Da sind Menschen mit abgerissenen Beinen eingeliefert worden. Sie haben auch verwundete Hamas-Leute behandelt“, sagt Weiss und schüttelt sich. „Die lagen neben verletzten Israelis.“ Er ist wie sein Freund überzeugt: „Wir müssen das jetzt beenden.“

Albin hört die Schüsse und verschanzt sich voller Angst drei Tage in seiner Wohnung

Im Süden gibt es kaum einen Menschen, der nicht jemanden kennt, der ermordet oder verschleppt wurde. Das und die verstörende Erfahrung der Verletzbarkeit ihres Landes lassen wenig Raum für Kompromisse oder Mäßigung. Robert Albin ist Betriebsratsvorsitzender der Beschäftigten an der Sapir-Hochschule, an der rund 7500 Studenten unterrichtet werden. Eigentlich lebt er in Sderot ganz in der Nähe des Gazastreifens. Jetzt ist er bei einem Freund in Rehovot südlich von Tel Aviv untergekommen. Am vorvergangenen Samstag dringen Terrorkommandos der Hamas in Sderot ein. Albin hört die Schüsse auf den Straßen, verschanzt sich voller Angst drei Tage in seiner Wohnung. „Alle waren in ihren Wohnungen gefangen, mussten die kleinen Kinder beruhigen. Das war wie bei Anne Frank.“

Albin verliert bei der Attacke seine gute Freundin und Kollegin Jasmin Zohar, die zusammen mit ihrem Ehemann und ihren beiden Töchtern ermordet wird. „Sie war die gute Seele unserer Hochschule. Für mich ist es, als habe ich eine Schwester verloren“, sagt er. Seine Hand zittert, als er ein Bild der Familie auf dem Telefon zeigt. Er bittet um Entschuldigung, weil er nicht weiterreden kann, wischt sich Tränen aus den Augen. Es ist für ihn keine Frage, dass die Vergeltung umfassend ausfallen muss. „Ich bin sicher, dass friedliebende Menschen im Gazastreifen in der Minderheit sind“, sagt Albin entschieden. Die Vergeltung, egal wie hart sie ausfallen wird, hat seine Zustimmung.