Jerusalem. Nach dem Tod ihres Anführers stoppt die Hamas die Geisel-Gespräche. Das Schicksal vieler Vermisster ist unklar – auch von Tal Shoham.

Die Bewohner im Norden Israels hatten in der Nacht auf Mittwoch jeden Grund, um schlecht zu schlafen: Nach der gezielten Tötung des Terrorführers Salech Al-Arouri in Beirut befürchtete Israel Racheakte der Hisbollah-Milizen im Libanon.

Zwar war Al-Arouri kein Hisbollah-Mann, sondern einer der mächtigsten Hamas-Leute – er galt als Nummer zwei hinter dem politischen Führer der Hamas, Ismail Haniyeh, und als dessen potenzieller Nachfolger. Al-Arouri genoss aber den Schutz der pro-iranischen Miliz. Und der Ort, an dem der Drohnenangriff stattfand, war ein von der Hisbollah beherrschtes Viertel in Beirut.

Die libanesische Zeitung Al-Akhbar, für ihre Nähe zur Hisbollah bekannt, titelte: „Israel hat eine rote Linie überschritten.“ Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah hatte in der Vergangenheit angekündigt, dass jede gezielte Tötung im Libanon „zu einer scharfen Reaktion“ führen würde.

Die dreijährige Yahel konnte aus der Geiseihaft befreit werden. Doch noch sind rund 130 Israelis in Gaza gefangen. Für sie spitzt sich die Lage zu.
Die dreijährige Yahel konnte aus der Geiseihaft befreit werden. Doch noch sind rund 130 Israelis in Gaza gefangen. Für sie spitzt sich die Lage zu. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Israel Prime Minister Office

Israel erklärt sich nicht verantwortlich für den Tod Al-Arouris. Armeesprecher Daniel Hagari wählte seine Worte aber mit besonderer Sorgfalt, als er Dienstagabend verkündete, die israelische Armee sei – auf einem sehr hohen Bereitschaftslevel – an allen Fronten, in der Abwehr und in der Offensive“, sagte Hagari. „Am wichtigsten ist heute: Wir sind und bleiben darauf fokussiert, die Hamas zu bekämpfen.“

Man kann das als Botschaft an Nasrallah verstehen: Hier geht es nicht um die Hisbollah, hier geht es nicht um den Libanon – sondern um die Palästinenser und die Hamas. Das lässt sich aber nicht sauber trennen. Al-Arouri galt als Bindeglied zwischen Hamas und Hisbollah. Seine Tötung fiel ausgerechnet auf den Abend vor dem vierten Jahrestag der gezielten Tötung eines hochrangigen iranischen Terrorkommandanten, Kassem Soleimani. Nasrallah hatte anlässlich dieses Jahrestages eine Rede angekündigt.

Nahost: Sorge vor neuer Gewalt im Westjordanland

Im Luftraum über Israels Norden blieb es in der Nacht auf Mittwoch und in den Morgenstunden schließlich still. Die Abwehrsysteme stellten sich aber auch auf Langstreckenraketen aus dem Libanon ein. Terror-Experte Michael Milstein hält es für möglich, dass die Antwort auf die Tötung auf Al-Arouri nicht in einem Beschuss ziviler Ziele in Israel liegen könnte – sondern in einer Eskalation im Westjordanland. Auf diese Weise könnte man Rache üben, ohne zu riskieren, dass die höchst angespannte Lage an der libanesischen Grenze in einen offenen Krieg ausartet. Zudem war es Al-Arouri, der in Israel als federführend für die Terrorwelle im Westjordanland gesehen wurde. Eine Reaktion in Al-Arouris Kommandogebiet wäre aus Sicht der Hamas ein wirksames Zeichen der Stärke.

Adi Shoham, 38, mit den Kindern Yahel (3) und Nave (8).  Sie konnten beim letzten Gefangenenaustausch freikommen.
Adi Shoham, 38, mit den Kindern Yahel (3) und Nave (8). Sie konnten beim letzten Gefangenenaustausch freikommen. © via REUTERS | ISRAELI PRIME MINISTER'S OFFICE

In Israel wird Al-Arouri als jener Faktor gesehen, der in den Verhandlungen rund um einen neuen Geisel-Deal mit der Hamas unrealistische Forderungen stellte und bisher einen neuen Kompromiss verhinderte. Wer hoffte, Al-Arouris Tod könnte einen Durchbruch in den Verhandlungen bringen, wurde umgehend enttäuscht: Die Hamas verkündete nach dem Bekanntwerden des Todes Al-Arouris einen sofortigen Abbruch der Gespräche.

Für die Angehörigen der rund 130 immer noch in Gaza festgehaltenen Geiseln ist das ein besonders schwerer Schlag, hatte es doch kurz zuvor Meldungen über einen Verhandlungsfortschritt langen, zählen Gesprächen gegeben. Laut arabischen Nachrichtenagenturen und einem israelischen Bericht hat die Hamas ihre Forderung nach einer unbegrenzten Waffenrufe fallen gelassen. Stattdessen verlangte die Terrorgruppe die Freilassung von 120 Gefangenen aus israelischen Gefängnissen. Im Gegenzug würden vierzig der rund 130 Geiseln freigelassen.

Israel: Die Verzweiflung der Angehörigen nimmt von Tag zu Tag zu

Dazu kommt es nach dem Abbruch der Gespräche seitens Hamas nun nicht. In Israel wiederum sind alle diplomatischen Bemühungen darauf gerichtet, eine Eskalation im Norden zu vermeiden.

Terrorgruppen aus Gaza hatten bei ihrem Überfall auf Israel mehr als 240 Menschen nach Gaza verschleppt und mehr als 1200 Menschen ermordet, die meisten von ihnen Zivilisten.

Das Plakat zeigt die Geisel Tal Shoham (38). Er ist seit dem 7. Oktober in der Gewalt der Hamas. Das Forum „bring them home“ fordert die sichere Rückkehr der verbliebenen 130 Geiseln.
Das Plakat zeigt die Geisel Tal Shoham (38). Er ist seit dem 7. Oktober in der Gewalt der Hamas. Das Forum „bring them home“ fordert die sichere Rückkehr der verbliebenen 130 Geiseln. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Bring Them Home Now

Unter den Geiseln befanden sich auch 22 Menschen mit deutsch-israelischer Doppelstaatsbürgerschaft. Sieben von ihnen wurden inzwischen als tot gemeldet, fünf befinden sich laut heutigem Wissensstand weiterhin in der Gewalt der Hamas. Wie viele von ihnen noch am Leben sind, ist völlig unklar. Die Terrorgruppen weigern sich, dem Roten Kreuz Zugang zu den Geiseln zu verschaffen. Zehn der deutsch-israelischen Doppelstaatsbürger konnten im Rahmen des Geisel-Deals Ende November freigelassen werden. Unter ihnen war Adi Shoham, die mit ihrer dreijährigen Tochter Yahel und dem achtjährigen Sohn Naveh fast zwei Monate in der Gewalt der Terrorgruppen überlebte. Sie sind nun wieder in Freiheit. An einen Neubeginn in Ruhe können sie aber noch lange nicht denken: Der Vater der Kinder und Adis Mann, Tal Shoham, befindet sich weiterhin in Gaza. Von ihm fehlt jede Spur.

Mit jedem Tag steigt nun die Verzweiflung der Angehörigen. Sie werfen der Regierung vor, das Schicksal der Geiseln der Vernichtung der Hamas unterzuordnen. Während Israels offizielle Propaganda versucht, das Leiden der Zivilisten in Gaza aus der öffentlichen Wahrnehmung auszuklammern, können die

Angehörigen der Geiseln

An der Kaplanstraße in Tel Aviv halten seit einigen Tagen Menschen eine Mahnwache für die Kinder, Frauen und Männer ab, die am 7. Oktober von der Terrororganisation Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurden.
An der Kaplanstraße in Tel Aviv halten seit einigen Tagen Menschen eine Mahnwache für die Kinder, Frauen und Männer ab, die am 7. Oktober von der Terrororganisation Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurden. © FUNKE Foto Services | André Hirtz
Die Terroristen haben bei ihrem Überfall auf israelische Städte und Gemeinden in der Nähe des Gazastreifens 199 Menschen entführt und halten sie seitdem in Geiselhaft. Ihr Schicksal ist unklar.
Die Terroristen haben bei ihrem Überfall auf israelische Städte und Gemeinden in der Nähe des Gazastreifens 199 Menschen entführt und halten sie seitdem in Geiselhaft. Ihr Schicksal ist unklar. © FUNKE Foto Services | André Hirtz
Wo sich die Geiseln im Gazastreifen befinden, ist unklar. Die israelischen Streitkräfte vermuten, dass sie in dem weitverzweigten Tunnelsystem unter Gaza sind, das die Hamas in den vergangenen Jahren angelegt hat. 
Wo sich die Geiseln im Gazastreifen befinden, ist unklar. Die israelischen Streitkräfte vermuten, dass sie in dem weitverzweigten Tunnelsystem unter Gaza sind, das die Hamas in den vergangenen Jahren angelegt hat.  © FUNKE Foto Services | André Hirtz
Die Hamas will mit den Geiseln palästinensische Gefangene freipressen und die israelischen Streitkräfte dazu zwingen, bei der möglicherweise bevorstehenden Bodenoffensive und den Luftschlägen gegen Gaza vorsichtig vorzugehen.
Die Hamas will mit den Geiseln palästinensische Gefangene freipressen und die israelischen Streitkräfte dazu zwingen, bei der möglicherweise bevorstehenden Bodenoffensive und den Luftschlägen gegen Gaza vorsichtig vorzugehen. © FUNKE Foto Services | André Hirtz
An einer Wand an der Kaplanstraße sind die Bilder der Entführten aufgehängt. Unter ihnen sind kleine Kinder im Alter von neun Monaten, zwei, drei und vier Jahren. Auch ganze Familien sind entführt worden.
An einer Wand an der Kaplanstraße sind die Bilder der Entführten aufgehängt. Unter ihnen sind kleine Kinder im Alter von neun Monaten, zwei, drei und vier Jahren. Auch ganze Familien sind entführt worden. © FUNKE Foto Services | André Hirtz
Unter den Menschen, die die Mahnwache an der Kaplanstraße abhalten, sind auch Angehörige der Entführten. Sie fordern die sofortige Freilassung ihrer Lieben.
Unter den Menschen, die die Mahnwache an der Kaplanstraße abhalten, sind auch Angehörige der Entführten. Sie fordern die sofortige Freilassung ihrer Lieben. © FUNKE Foto Services | André Hirtz
Bereits am Freitag hatten Angehörige deutscher Staatsbürger die Bundesregierung dringend um Hilfe gebeten. Unter den Entführten sollen bis zu 15 Deutsche sein, hatten sie bei einer Pressekonferenz berichtet.
Bereits am Freitag hatten Angehörige deutscher Staatsbürger die Bundesregierung dringend um Hilfe gebeten. Unter den Entführten sollen bis zu 15 Deutsche sein, hatten sie bei einer Pressekonferenz berichtet. © FUNKE Foto Services | André Hirtz
International laufen Bemühungen zur Freilassung der Entführten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron berichtete am Dienstag Verhandlungen, die über mehrere als Vermittler arbeitende befreundete Mächte liefen. Auch die Türkei, die gute Beziehungen zur Hamas pflegt, gibt an, sie bemühe sich um die Freilassung der Geiseln.
International laufen Bemühungen zur Freilassung der Entführten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron berichtete am Dienstag Verhandlungen, die über mehrere als Vermittler arbeitende befreundete Mächte liefen. Auch die Türkei, die gute Beziehungen zur Hamas pflegt, gibt an, sie bemühe sich um die Freilassung der Geiseln. © FUNKE Foto Services | André Hirtz
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nicht anders, als sich auch diesen Aspekt des Kriegs bewusst zu machen: Durst, Infektionskrankheiten und der ständige Beschuss treffen auch die nach Gaza Verschleppten. Je mehr Tage vergehen, desto größer ist die Angst, dass sie es nicht überleben.