Tel Aviv. Tausende Menschen stecken in Kibbuzen nahe der Grenze zu Gaza fest – und erleben den Horror hautnah. Nun werden erste Vorwürfe laut.
Bis zum Wochenende war Kfar Aza ein 800-Einwohner-Kibbutz im Süden Israels, den man als idyllisch bezeichnen konnte, wenn man vom regelmäßigen Raketenalarm absah. Am Sonntag hingegen glich die Siedlung einem Schlachtfeld. Israelische Truppen lieferten sich heftige Gefechte mit Terroristen aus dem Gazastreifen, die tags zuvor durch die Grenzbarriere eingedrungen und Massaker in Dörfern und Städten nahe dem Grenzzaun angerichtet hatten. Mindestens 350 Israelis kamen bisher zu Tode, darunter auch viele Kinder.
Ein großer Teil der Bewohner der Kibbutz-Siedlungen nahe der Gazagrenze sind längst in den Norden Israels geflüchtet, aber längst nicht alle. Fast jede Familie in Israel kennt jemanden, der vermisst wird. Alle kennen das Zittern und den Horror, wenn jemand längere Zeit nicht auf Nachrichten antwortet oder auf Anrufe reagiert: Wurde er nach Gaza verschleppt, so wie Dutzende andere Zivilisten, darunter auch Kinder und betagte Menschen? Wurde sie gefoltert, ermordet? Oder sitzen sie ohne Handyempfang in einem der Luftschutzräume, wo sie das Schießen im Kibbutz hören und nur hoffen können, dass die Terroristen an ihrem Haus vorbeiziehen?
- Gerichtsurteil: Paukenschlag in Israel – Ultraorthodoxe müssen zur Armee
- Verletzter Verdächtiger: Palästinenser auf Motorhaube gebunden – Empörung über Israels Militär
- Regierung unter Druck? Massenproteste in Israel – größte Demo seit Monaten
- Islamisten: Stärkste Angriffe seit Kriegsbeginn – Hisbollah beschießt Israel
- Nach Rettung: Geisel Noa Argamani befreit – Das war ihr erster Wunsch
Kfar Aza war am Sonntag einer von sieben akuten „Kampfzonen“, wie Armeesprecher Richard Hecht sie nennt. „Wir kämpfen mit voller Kraft, um die Gebiete zurückzugewinnen“, sagt er. Den Terroristen war es gelungen, einen Armeestützpunkt und eine Polizeistation unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach und nach arbeitet die Armee sich vor, um die Orte aus der Macht der bewaffneten Milizen zu befreien.
Hamas-Angriff: Vorwürfe, die israelische Armee habe versagt
Dabei ist sie schweren Vorwürfen ausgesetzt. Aus mehreren Kibbutzen dringen Horrorgeschichten von einzelnen bewaffneten Bewohnern, die auf eigene Faust versuchten, eindringende Terroristen abzuwehren. Jeder Kibbutz im Umkreis der Gazagrenze hat solche speziell trainierten Sicherheitsteams, deren Aufgabe es ist, erste Abwehrmaßnahmen zu treffen, bis die Armee eintrifft. Nun sind es diese Erstversorger, die selbst die Arbeit der Armee verrichten müssen, weil das Militär mit der Vielzahl an betroffenen Orten überfordert zu sein scheint, erzählt ein Kibbutzbewohner.
Zum Vorwurf, die Armee habe versagt, äußert sich deren Sprecher nicht. Diese Diskussionen werde man führen, wenn der Krieg vorüber ist, sagt Hecht. „Jetzt konzentrieren wir uns darauf, Kontrolle zurückzugewinnen. Zum Teil ist das schon gelungen. Die massive Grenzbarriere, die von den Terroristen mit Bulldozern durchbrochen worden war, sei an 29 Punkten wieder abgedichtet worden, sagt Hecht.
Die Armee hat das Gebiet nahe der Gaza-Grenze zum militärischen Sperrgebiet erklärt, niemand darf sich ihr nähern. Wer noch nicht fliehen konnte, soll nun in Militärjeeps evakuiert werden. Konkrete Angaben, wie viele Menschen derzeit in den Kibbutzim nahe Gaza feststecken, macht die Armee nicht. Es seien aber jedenfalls „Tausende“, sagt Hecht. Es ist eine heikle Operation, zumal das Gebiet weiter unter dichtem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen stand. Mehr zum Thema: Der Krieg gegen Israel hat eine völlig neue Dimension
Hamas veröffentlicht Videos von Gräueltaten
Die Hamas betreibt indes ihre Kriegsführung auch mit Propagandamitteln in sozialen Medien. Dort kursieren grauenhafte Fotos und Videos von entstellten Geiseln, weinenden Kindern, leblosen Körpern verschleppter Personen, die von Terroristen in Gaza gepostet wurden. Darunter befindet sich auch eine deutsche Staatsbürgerin, wie deren Cousine auf Nachfrage bestätigt. Es soll sich um eine Teilnehmerin an einem Festival nahe der Gazagrenze handeln. Das Festival war am Samstag von Terroristen überfallen worden.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu steckte am Samstag das Ziel der Vergeltungsschläge an, die seit Samstag im Gange sind: „Alle Orte, in denen sich die Hamas versteckt und von denen aus sie operiert, werden wir in Schutt und Asche legen“, sagte er. „Kommt sofort da raus“, rief er die Hamas-Angehörigen auf. Der Gazastreifen ist dicht besiedelt, die dort lebenden 2,3 Millionen Menschen haben keine Möglichkeit, das Gebiet zu verlassen.
Experten gehen davon aus, dass diese militärische Auseinandersetzung nicht nach wenigen Tagen vorbei sein wird. Es ist das Ziel der Armee, die Hamas in ihrer Angriffskraft auf Null zu setzen. „Wir werden diesmal jede Zurückhaltung ablegen“, sagt der frühere Nationale Sicherheitsberater israelischer Regierungen, Yaakov Amidror. „Wir werden alles tun, um die militärische Infrastruktur der Hamas zu zerstören und Hamas-Kämpfer zu töten.“ Bis dieses Ziel erreicht sei, könnten sogar „mindestens einige Monate“ vergehen, schätzt Amidror. „Sehr viele Menschen werden getötet werden.“
Israel: Regierung ruft Kriegszustand aus
Inzwischen hat die Regierung offiziell den Kriegszustand ausgerufen. Ob das auch eine Bodenoffensive beinhaltet, also das Entsenden einer massiven Anzahl israelischer Bodentruppen in den Gazastreifen nach sich zieht, ist unklar. Vieles deutet darauf hin. Aus der Armee hört man, eine solche Offensive sei „noch nicht“ aktuell, könnte aber kommen. Militärexperte Amidror hält es für wahrscheinlich. Ein starker Schlag gegen die Hamas „kann nicht nur mit Artillerie und Luftwaffe gelingen“, sagt Amidror.
Viele stellen sich die Frage, warum Hamas ausgerechnet jetzt angegriffen hat. In vergangenen Kampfrunden hielt sich die Hamas zurück. Manche in Israels Militärapparat begannen sogar, die Hamas als vergleichsweise moderate Kraft im Gazastreifen zu sehen. „Auch ich habe diesen Fehler gemacht“, sagt Amidror. „Wir haben mit der Illusion gelebt, dass die Hamas sich gewandelt hat und nun verantwortlicher agiert. Wir haben uns getäuscht.“