Tel Aviv. „Sie trauen sich nicht mehr aus dem Haus“: Ein Psychiater schildert, wie es Überlebenden der Shoah seit dem Hamas-Massaker geht.
Das Hamas-Massaker gegen Tausende Israelis am 7. Oktober hat zu einem kollektiven Schock im Land geführt. Noch nie seit dem Holocaust sind Jüdinnen und Juden so angegriffen worden. Das Ausmaß der Barbarei hat auch international für Entsetzen gesorgt. In einer besonderen Situation befinden sich die betagten Überlebenden der Shoah, die die Angriffe teils miterlebt, teils in den Medien mitverfolgt haben: Bei ihnen werden böse Erinnerungen wach, teilweise sind sie retraumatisiert worden. Der Jerusalemer Psychiater Martin Auerbach versucht, ihnen zu helfen. Im Gespräch mit unserer Redaktion erzählt er von seinen Gesprächen mit den Shoah-Opfern.
Am 7. Oktober wurde ganz Israel durch den Überfall der Hamas in eine Schockstarre gestürzt. Kann man von einem nationalen Trauma sprechen?
Martin Auerbach: Ja und nein. Es ist ganz unterschiedlich, ob man in einem Haus in einem der Kibbutzim im Süden war und sich zwölf Stunden lang verstecken musste, während man hörte, dass draußen Leute herumgehen und Wohnungen in Brand stecken – oder aber man sitzt in Netanya nahe Tel Aviv und sieht es in den Medien. Wenn man die Kreise größer zieht, gibt es aber niemanden in Israel, den es nicht betrifft. Es ist ja nicht wie 9/11, das nur einen kleinen Teil der US-Bevölkerung betroffen hat und das danach vorbei war. Hier kennt jeder irgendwen, der betroffen war. Und der Krieg ist noch im Gange, Geiseln sind noch in Gaza, und wir haben mehr als 120.000 Menschen, die an ihren Wohnort nicht zurückkönnen.
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Welche Gefühle löst das aus?
Es gab hier immer Kriege und Bombenanschläge, aber viele Israelis dachten, damit kann man leben. Heute haben viele das Gefühl, dass die Existenzbedrohung realer ist als früher. Regierung und Armee hätten uns beschützen sollen, aber das ist nicht passiert. Speziell für die, die nahe Gaza wohnen, ist das schwierig. Wir wissen, dass es grobe Fehler gegeben hat in der Prävention, dass Warnrufe ignoriert wurden. Dieser Vertrauensbruch, das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, ist eine enorme Belastung.
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Weckt der 7. Oktober alte kollektive Erinnerungen?
Viele sagen, das Massaker ähnelte einem Pogrom. Und Pogrome gab es über Jahrhunderte, auch Ende des 19. Jahrhunderts noch, in Russland und der Ukraine, und sogar nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen. Diese Erinnerung ist im kollektiven Bewusstsein noch da.
Zu Ihnen kommen Holocaust-Überlebende in die Therapie. Wie haben sie den 7. Oktober verarbeitet?
Die Holocaust-Überlebenden sind nicht eine homogene Gruppe, sie sind sehr divers. Aber für alle war der 7. Oktober ein erneutes Erdbeben, das die Erinnerungen an die Vergangenheit wieder aufleben lässt. Bei vielen verstärkt es die Existenzängste.
Wie drücken sich diese Ängste aus?
Die Überlebenden haben jetzt mehr Albträume – vor allem von Dingen, die vor achtzig Jahren passiert sind. Einige trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Viele horten Lebensmittel und sagen ihren Kindern und Enkelkindern: Bleibt nicht hier, sucht euch ein anderes Land, hier haben wir keine sichere Zukunft. Es gibt aber auch die, die sagen: Weil wir selbst gelitten haben, können wir empathisch sein für die heutigen Opfer. Manche beziehen das auch auf die zivilen Opfer in Gaza.
Verstörende Bilder und Beschreibungen der Massaker sind in den Medien allgegenwärtig. Was bedeutet das für die Überlebenden, wenn sie diese Bilder ständig sehen?
Das hat gute und schlechte Seiten. Viele Shoah-Überlebende sagen: Heute wird berichtet, das Leid wird öffentlich anerkannt – um uns hat sich damals niemand gekümmert. Das ist positiv, weil die Opfer sich nicht vergessen fühlen oder sogar den Eindruck haben, dass ihnen nicht geglaubt wird – das war während und nach der Shoah nämlich oft der Fall. Die negative Seite ist: Die Bilder können enorm traumatisierend sein. Daher empfehlen wir den Menschen, diese Videoclips nicht zu oft zu sehen, nicht diese Gräuelberichte zu stark zu konsumieren. Die Überflutung mit diesen Nachrichten ist für unsere Seele sehr belastend.
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Es ist aber eine bewusste Strategie der israelischen Regierung, diese Bilder zu zeigen.
Es ist immer wichtig und notwendig, Unrecht, Gewalttaten und das ausgelöste menschliche Leid zu dokumentieren. Die Öffentlichkeit muss sich damit auseinandersetzen, man darf nicht verleugnen und vergessen. Nur so können Lehren für die Zukunft gezogen werden. Andererseits ist eine zu konkrete, grafische Darstellung erschütternd und kann zu Abwehrreaktionen führen.
Niemand weiß, wann die Bedrohung in Israel nachlassen wird. Wie kann man ein Trauma bearbeiten, wenn die Gefahr immer noch akut ist?
Das macht es sehr schwierig. Ein Beispiel: Wird eine Frau immer noch von ihrem gewalttätigen Mann bedroht, dann ist die Therapie nicht, mit ihr an ihren Albträumen zu arbeiten – denn die sind ja eine ganz normale Reaktion auf konkrete Gefahr. Sie muss erst aus der Gefahrenzone raus, sonst kann man das nicht therapieren. Und das ist im Moment in Israel noch nicht der Fall: Es gibt Krieg, es gibt Bombenalarm, niemand weiß, wie es ausgeht.
Wie können Therapeuten da ein Gefühl von Sicherheit vermitteln?
Man versucht, wenigstens eine relative Stabilität zu bieten. Zum Beispiel, indem man den Menschen einen Tagesablauf gibt. Viele Freiwillige haben das gemacht: Sie sind zu den evakuierten Kindern gegangen und haben mit ihnen gemalt, mit ihnen „Schule“ gemacht. Natürlich ist das nicht dieselbe Schule, und viele Klassenkollegen sind nicht mehr am Leben – aber es ist Schule. Sehr oft besteht Normalität einfach darin, dass man sich aktiv mit etwas beschäftigt. Die Angehörigen der Geiseln sind ja sehr aktiv im Kampf, um die Geiseln zurückzubringen. Sie fahren ins Ausland, klopfen an allen Türen, sprechen mit Medien und sagen: So schlecht es uns geht, wir müssen etwas tun – und das ist etwas, was ihnen extrem hilft.
Martin Auerbach ist auf Trauma spezialisierter Psychiater und Psychotherapeut in Jerusalem. Er ist Klinischer Leiter von Amcha, dem israelischen Zentrum für psychosoziale Unterstützung von Holocaustüberlebenden und ihren Familien.