Tel Aviv. Wochenlang waren die nun befreiten Geiseln in der Gewalt von Terroristen. Jetzt sind sie zurück – doch die Freude ist nicht ungetrübt.
Aviv Havron ist überglücklich. Seine Schwester Shoshan ist nach 50 Tagen Geiselhaft zurück in Israel, gemeinsam mit ihrer Tochter Adi und den Enkeln Yahel und Naveh, die deutsche Staatsbürger sind. Samstagabend wurden sie ins Sheba-Krankenhaus nahe Tel Aviv gebracht. Dort haben sie ihre ersten Umarmungen ausgetauscht. Von einer Nacht voller Freudentränen erzählt Aviv. „Wir haben bis zum Morgen nicht geschlafen.“ Wie es Shoshan, Adi und den Kindern nun geht, welche Folgen die Geiselnahme für ihre Körper und Seelen hatte, will Aviv nicht der Öffentlichkeit preisgeben. Er sagt nur so viel: „Sie wirken in Ordnung.“ Und die kleine Yahel „lächelt wieder so süß, wie nur sie es kann“.
Doch die Freude der Kinder, wieder zuhause zu sein, ist getrübt: Ihr Vater Tal, der ebenfalls am 7. Oktober nach Gaza verschleppt wurde, ist immer noch in der Gewalt der Hamas. Er soll getrennt von seiner Familie festgehalten worden sein. Der israelisch-österreichische Doppelstaatler wird wohl so schnell noch nicht nach Hause zurückkehren können: Der Deal Israels mit der Hamas sieht vor, dass im ersten Schritt nur Frauen und Kinder freigelassen werden. Anders verhält es sich mit den nicht-israelischen Staatsangehörigen, den Arbeitsmigranten aus Thailand und den Philippinen: Unter den Freigelassenen sind auch Männer.
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Am Freitag konnten die ersten 24 freigelassenen Geiseln nach Israel überstellt werden, am Samstag wurden weitere 17 Verschleppte befreit. Jeden Tag beginnt das Zittern von Neuem. So war am Samstag bis zuletzt unklar, ob die Übergabe klappt, auch am Sonntag warnte das Rote Kreuz zunächst, man sei „nicht zuversichtlich“, dass die dritte Geiselüberstellung klappen würde. Dann wurden am Abend doch noch 14 israelische Geiseln und drei Ausländer freigelassen.
Israel und Hamas werfen sich vor, den Deal zu brechen
An jedem Vorabend werden Listen für den Tag danach ausgetauscht: Die Hamas gibt bekannt, welche 13 israelische Geiseln in der nächsten Etappe freigelassen werden. Israel wiederum übermittelt die Namen der 39 palästinensischen Gefangenen, die ihre Haft vorzeitig abbrechen dürfen. Am Samstag dauerte es jedoch einige Stunden, bis die Terrorgruppen die Geiseln tatsächlich ans Rote Kreuz auslieferten. Beide Seiten werfen einander vor, sich nicht an den Deal zu halten.
Die Hamas behauptet, dass weniger Hilfslieferungen nach Gaza kamen als vereinbart. Indizien, dass der Vorwurf berechtigt ist, gibt es nicht. In Israel wiederum war man entsetzt zu sehen, dass eines der freigelassenen Kinder von seiner Mutter, ein weiteres von seinem Bruder getrennt wurde. Der Deal sieht vor, dass Familien vereint bleiben – vorausgesetzt, es handelt sich um Minderjährige oder Frauen. Dass sich die Hamas nicht daran hielt, begründet die Terrorgruppe damit, dass man „nicht weiß, wo sie sich befinden“.
In den kommenden Wochen haben die wieder vereinten Familien viel aufzuholen. „Sie wissen nur sehr wenig von dem, was hier passiert ist“, sagt Aviv über Shoshan, Adi und die Kinder. „Und wir wissen fast nichts von dem, was dort geschah.“ Diese Informationen auszutauschen, sei aber jetzt nicht das Wichtigste. „Wenn sie nach Details fragen, antworten wir. Aber so weit sind wir noch nicht.“ Jetzt gehe es einmal darum, dass die Zurückgekehrten nach 50 Tagen in Gefangenschaft wieder zu Kräften kämen. Und dass sie den Schmerz verarbeiten könnten über den Riss, den die Hamas ihrer Familie am 7. Oktober zugefügt hat: Shoshans Ehemann wurde von den Terroristen ermordet, genauso ihre Schwester und deren Mann.
Geiseln wissen nichts vom Schicksal der Angehörigen
Shoshan ist die Enkeltochter von aus Deutschland vertriebenen Juden. Beide Großeltern waren Ärzte in Stuttgart, nach der Machtübernahme Hitlers konnten sie nach Palästina fliehen. Ihr Sohn Abraham war einer der Mitbegründer des Kibbuz Beeri: Mitten in dürrem Wüstengebiet bauten sie eine Gemeinschaft auf, begrünten das Gebiet, bepflanzten Felder. Beeri wurde am 7. Oktober von den Hamas-Terroristen verwüstet. Adi und die beiden Kinder sind deutsche Staatsbürger, die Familie stand in den Wochen seit ihrer Verschleppung nach Gaza mit der Deutschen Botschaft in Tel Aviv in engem Kontakt.
Es war eine Zeit des emotionalen Auf und Abs, eine Zeit der Verzweiflung und der Frustration: „Seit dem 7. Oktober sind viele, viele Jahre vergangen“, sagt Aviv. Und es war auch eine Zeit, in der die beiden Teile der Familie in unterschiedlichen Universen lebten. Die Geiseln in Gaza wussten zwar, dass Krieg ist – der Lärm und die Erschütterungen der Bombardierungen waren allgegenwärtig. Von den Massakern in den Kibbuzen und am Festivalgelände, von der Folter und den Verstümmelungen wissen sie nichts. Auch vom Schicksal ihrer Angehörigen, Freunde und Nachbarn erfahren sie erst jetzt.
Die 78-jährige Ruti Munder, die mit ihrer Tochter Keren und deren Sohn Ohad am Freitag nach Israel zurückkehren konnte, war in den 49 Tagen ihrer Gefangenschaft auch damit beschäftigt gewesen, um ihren Mann Avraham zu trauern. „Am Freitag erzählten wir ihr, dass er am Leben ist, aber nach Gaza verschleppt wurde“, erzählt Merav Raviv, Kerens Cousine. Zugleich musste Ruti erfahren, dass ihr Sohn Roey, Kerens Bruder und Ohads Onkel, ermordet wurde.
Geiselhaft: „An manchen Tagen bekamen sie gar nichts zu essen“
Auch Ruti und Keren erzählten: Von den Umständen in der Geiselhaft, von der Nahrung, die nie ausreichte. „An manchen Tagen bekamen sie gar nichts zu essen, an anderen nur ein bisschen Brot oder Reis.“ Keren habe rund acht Kilo verloren, auch Ohad und Ruti hätten abgenommen. Um auf die Toilette zu gehen, musste man an einer Tür klopfen, manchmal dauerte es eineinhalb Stunden, bis die Bitte erhört wurde. Geschlafen wurde auf Plastikstühlen. An die Hoffnung, bald befreit zu werden, wagte sich niemand zu klammern. „Keren sagt, sie wusste, dass es sehr lange dauern würde, bis man sie befreit.“
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Indes mehren sich Hoffnungen, dass die Waffenruhe noch um ein paar Tage verlängert werden könnte, sodass am Ende mehr als die vereinbarten fünfzig Geiseln aus der Gewalt der Hamas entlassen werden. Diese Hoffnungen wurden am Samstag durch eine bemerkenswerte Fluglandung genährt: Ein Business-Jet aus Katar landete in Tel Aviv. Es ist das erste Mal, dass ein katarisches Flugzeug Israel anfliegt. Eine Delegation des Emirats traf Vertreter Israels, um über eine mögliche Fortsetzung der Waffenruhe zu verhandeln. Dass sie auf unbestimmte Zeit ausgedehnt wird, ist allerdings kaum realistisch.
Israels Armee und Regierungsspitze haben wiederholt angekündigt, dass die Militäroperation im Gazastreifen so lange fortgesetzt wird, bis die Hamas militärisch geschlagen ist. Die Angehörigen der Geiseln rufen indes die Regierung auf, auch das zweite Ziel der Operation nicht zu vergessen: die Befreiung aller übrigen Geiseln. „Die jüngste Geisel ist erst zehn Monate alt“, erinnert Adva Adar, Enkelin der am Freitag befreiten 85-jährigen Yaffa Adar. „Wir müssen für sie kämpfen. Dieses Land kann sich nicht erholen, solange nicht alle Geiseln wieder zuhause sind.
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