Hagen. Nach mehreren Behandlungsfehlern bei der Geburt wird Emma aus Hagen niemals alleine lebensfähig sein. Ihre Eltern führen einen endlosen Kampf.

Fast elf Jahre ist es her, dass das Leben von Emma durch mehrere gerichtlich festgestellte grobe Arztfehler, die in der Zeit vom 17. auf den 18. Dezember 2013 in der Geburtsstation des evangelischen Krankenhauses Haspe geschahen, für immer verändert wurde. Ihr Hirn ist geschädigt, ihre Motorik auf ein Mindestmaß beschränkt, eine spastische Lähmung, Krampfanfälle. Eine regelhafte geistige Entwicklung ist unmöglich. Sichtbar ist Emma die Hülle eines zehnjährigen Mädchens, innerlich wird sie es niemals bis auf diese Altersstufe schaffen. Sie ist ein schwerer Pflegefall und ihre Eltern werden sich, solange sie selbst leben, rund um die Uhr um sie kümmern müssen. Bis zum heutigen Tag zahlt die Versicherung der Klinik, die Versicherungskammer Bayern, aus Sicht der Familie Karnath nicht für den Mehrbedarf, der für das gesamte Leben von Emma anfällt und den das Landgericht Hagen per Urteil zugesichert hat.

„Nach sechs Jahren ist nur eine einzige taktische Minizahlung geflossen, die nach einem Jahr aufgebraucht war. Vor zwei Monaten mussten wir unser Einfamilienhaus verkaufen, weil die Versicherung die Kosten für den Hausumbau nicht übernehmen wollte. Angeboten worden ist uns als Abfindung ein Viertel von dem, was ein Gutachten an Kosten festgestellt hat. In einer anderen Stadt haben wir eine behindertengerechte Mietwohnung gefunden. Zehn Jahre Stress ist eine enorme Belastung für die ganze Familie.“

Julia Karnath, Mutter von Emma.

Die Pflege endet nie

Um drei Uhr in der Nacht stehen die Karnaths auf. Füttern, waschen, Medikamente - so geht der Tag los. Bis das schwer behinderte Mädchen bereit für einen normalen Tag ist, vergehen Stunden. Am Morgen fahren sie Emma in eine Schule für motorisch und geistig behinderte Kinder. Dann folgt die Zeit, in der die Karnaths selbst versuchen, zu arbeiten. In Vollzeit ist das nicht mehr möglich. Wenn sie wieder daheim sind und Emma abgeholt haben, dreht sich das Pflege-Karussell weiter. Bis 21 Uhr. Dann warten, wenn es keine Zwischenfälle gibt, knapp sechs Stunden Schlaf. Das ist nur selten der Fall: Nachts stehen sie mindestens einmal auf, um Emma umzulagern und zu wickeln. Das ist es. Es gibt keinen Urlaub, keine sozialen Verbindungen mehr. Es gibt nur Emma und die Unendlichkeit jedes Tages.

Ein Foto aus einem Moment, den es zwischendurch zum Glück auch gibt. Die Familie Karnath rund um die schwer behinderte Emma (Mitte).
Ein Foto aus einem Moment, den es zwischendurch zum Glück auch gibt. Die Familie Karnath rund um die schwer behinderte Emma (Mitte). © privat | Privat

Verdacht auf Schwangerschaftsvergiftung

Dass das so ist, hat mit Fehlern zu tun, die medizinisches Personal in den Stunden vor ihrer Geburt gemacht hat. Am 15. Dezember 2013 war Julia Karnath in der Endphase der Schwangerschaft mit Ödemen in Gesicht, Beinen und Füßen in der Klinik am Mops vorstellig geworden. Der Verdacht einer schweren Variante von Schwangerschaftsvergiftung konnte nicht bestätigt werden. Zwei Tage später, kurz nach einer Visite am Morgen, wurde die Geburt auf unnatürlichem Wege mit einer Viertel-Tablette Cytotec eingeleitet. Eigentlich ein Magenschutzmittel, das auch angewendet wird, um Geburten einzuleiten. Der Anfang vom Ende einer Chance auf ein normales Leben für Emma.

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Es geschehen von Beginn an grobe Behandlungsfehler, wie ein Gutachter später gerichtlich feststellen wird. Der erste, weil nach der Gabe von Partusisten (ein Arzneimittel zur Behandlung akuter Gefahrenzustände des Ungeborenen unter der Geburt) weitere Wehenmittel eingesetzt wurden, obwohl bei Julia Karnath bereits eine Stressreaktion durch Bluthochdruck zu erkennen war. Gegeben durch eine Hebamme, die zwar einen Arzt verständigt hatte, aber dennoch das Mittel gab. Der zweite schwere Fehler: Schon um 23.30 Uhr am Abend hätte längst ein Kaiserschnitt gemacht werden müssen. Die Herzfrequenz des Kindes war bereits bedrohlich weit abgesunken. Ein Sachverständiger erklärte das später für „unverständlich“. Nach der Geburt wurde Emma auf Julia Karnaths Bauch abgenabelt, wo sie leblos lag.

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Kinderklinik zu spät gerufen

Die Kinderklinik, so das Gericht, wurde überdies viel zu spät hinzugezogen. Das geschah erst eine weitere Stunde später, obwohl die Lage längst bedrohlich war. Ab 0.11 Uhr wurde versucht, Emma per Saugglocke zu entbinden. Längst sei da laut Sachverständigem klar gewesen, dass mit der Geburt eines geschädigten Babys zu rechnen sein müsse. Als Emma den Körper ihrer Mutter schließlich verlassen hatte, musste sie sofort reanimiert werden. Dass man ab 23.30 Uhr schon nicht notfallmäßig entbunden und stattdessen die Infusionen weiter gesteigert hatte, habe längst zu Hirnschädigungen des Kindes geführt. Das Kind hatte Atemstillstände, war unterversorgt.

Die Familie Karnath kämpft um eine Mehrbedarfsrente für Emma. Also für all jene Dinge, die Zeit ihre Lebens anfallen, weil die schweren Behandlungsfehler geschehen sind.
Die Familie Karnath kämpft um eine Mehrbedarfsrente für Emma. Also für all jene Dinge, die Zeit ihre Lebens anfallen, weil die schweren Behandlungsfehler geschehen sind. © privat | Privat

Emma sitzt den gesamten Tag im Rollstuhl oder wird auf dem Boden abgelegt. Selbstbestimmtes Handeln ist aus Sicht der Eltern, die 2018 475.000 Euro Schmerzensgeld erhielten, völlig unmöglich. Das Geld ist übrigens aufgebraucht für Umzüge, kleinere Umbauten und die Pflege. Die Karnaths haben ihr Haus verkaufen müssen, leben nun zur Miete und leiden nicht nur unter der psychischen Last, sondern auch unter der wirtschaftlichen. Denn die hohen Folgekosten durch die Pflege und alles Weitere, was rund um einen Mensch entsteht, der nicht annähernd alleine lebensfähig ist, werden bis heute nicht beglichen. Und in Vollzeit zu arbeiten ist, wie gesagt, nicht möglich.

24-stündiger Pflegebedarf

Und das, obwohl das Gericht klar feststellte, dass die Gesamtschuldner - ein Arzt, eine Ärztin und eine Hebamme - „sämtliche künftigen unvorhersehbaren immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen materiellen Schäden, die infolge der fehlerhaften Behandlung entstanden sind“ ersetzen müssen. Und genau dieser Kampf zermürbt die Karnaths. „Denn bis heute wird kein Geld gezahlt.“ Noch dazu, so behaupten die Karnaths, sei die Versicherung der Klinik nur bereit, für neun Stunden Pflegemehraufwand zu zahlen. „Wir sind aber bei 24 Stunden“, sagt Julia Karnath. Alle weiteren Kosten, die entstehen, hätte die Versicherung ebenfalls nicht abgegolten. Die Karnaths erheben nun Schadenersatzklage vor Gericht. Das Beweismittelverfahren laufe. Wie das ausgeht, steht noch in den Sternen. Den 24-stündigen Pflegebedarf habe ein Gutachter den Karnaths längst attestiert, erklärt die Mutter gegenüber der Redaktion.

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Abfindung angeboten

„Immer wieder wurden wir hingehalten. Das Kind braucht nicht so viel Pflege, das Kind ist gesünder als die Gutachten belegen. Dabei ist vom Gutachter anerkannt, dass Emma täglich 24-Stunden-Pflege und Betreuung braucht. Wir mussten die Versicherung verklagen. Beim ersten Termin 2018 wurde die Haftung anerkannt, die Versicherung hätte ab diesem Zeitpunkt alle Kosten übernehmen müssen. Zehn Jahre Stress ist eine enorme Belastung für die ganze Familie.“ Seit einem Jahr steht überdies die Diagnose, dass Emma auf dem linken Auge erblindet ist.

Emma (rechts) und ihr Bruder Max (6)
Emma (rechts) und ihr Bruder Max (6) © privat | Privat

Versicherung „bedauert das Schicksal“

Die Versicherungskammer Bayern ist Haftpflichtversicherer des evangelischen Krankenhauses Haspe, wo die Geburtshilfe 2018 geschlossen wurde. Vor allem wegen anhaltend großer Schwierigkeiten für den Standort Haspe, ausreichend Hebammen zu finden, wie das Krankenhaus seinerzeit erklärte. „Wir bedauern das tragische Schicksal von Emma sehr und wissen, dass – noch einmal mehr bei Kindern - die emotionale und oftmals auch finanzielle Belastung der betroffenen Familien immens ist“, erklärt die Versicherungskammer Bayern auf Anfrage der Stadtredaktion. Derzeit sei ein Prozess anhängig, „da bei einigen Positionen die Bewertungen zu einer angemessenen Schadensersatzleistung teils noch deutlich auseinander liegen. Wir haben uns intensiv um eine gütliche Einigung bemüht, waren bislang damit aber nicht erfolgreich, sodass diese wiederum gerichtlich mit entsprechend bestellten Sachverständigen herbeigeführt werden wird.“

„Das Schicksal von Emma geht uns nahe. Selbstverständlich wünschen wir uns, dass es zu einer zügigen und angemessenen Schadenersatzleistung kommt.“

Thomas Urban, Sprecher des evangelischen Krankenhauses Haspe

Es habe ein gerichtlicher Vergleichsvorschlag vorgelegen, dem die Versicherungskammer Bayern zugestimmt hätte, der aber abgelehnt worden sei. „Wir sind weiterhin daran interessiert, eine möglichst zeitnahe Klärung zu erwirken“, erklärt die Versicherung. Die Familie sollte sich nicht länger mit diesem Thema länger befassen müssen. „Doch können wir nicht zulasten der Solidargemeinschaft aller Versicherten ungerechtfertigte Leistungen bezahlen, die das notwendige Maß überschreiten“, so die Versicherung.

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Eine der größten Versicherungen Deutschlands

Auf der Internetplattform „Kampf gegen die Versicherung“ protestieren mehrere Geschädigte aus ganz unterschiedlichen Betroffenheitsbereichen gegen das Vorgehen oder Nicht-Handeln der Versicherungskammer Bayern. Die Plattform versteht sich als Selbsthilfegruppe, will Erfahrungsaustausch anbieten. Die Versicherungskammer Bayern gehört, was die Beitragseinnahmen angeht, zu den zehn größten Versicherungen in Deutschland.

Klinik nimmt Kontakt auf

„Das Schicksal von Emma geht uns nahe. Selbstverständlich wünschen wir uns, dass es zu einer zügigen und angemessenen Schadenersatzleistung kommt“, erklärt Thomas Urban als Sprecher für das evangelische Krankenhaus in Haspe, wo die schweren Fehler geschahen. „Anfang Juni dieses Jahres hat die Familie Karnath in einem persönlichen Schreiben Kontakt zu uns aufgenommen. Auf dieses Schreiben hat Markus Bachmann, Vorstand der Ev. Stiftung Volmarstein, bereits reagiert. Von weiteren schriftlichen oder mündlichen Anfragen haben wir allerdings keine Kenntnis“, so Urban weiter.