Hagen. Geburtstage oder Hochzeiten ihrer Kinder finden ohne Bettina statt. Wie die 66-Jährige aus dem Sauerland damit umzugehen lernt.
Weihnachten ist es besonders schlimm. Das Fest der Liebe, das Fest der Familie. Dann blättert Bettina in Fotoalben, schwelgt in Erinnerungen und denkt sich traurig: „Was für eine kranke Situation. Ich habe eine große Familie und dann doch nichts davon.“
Bettinas „Albtraum“, wie sie es nennt: Sie hat sechs Kinder großgezogen, fünf von ihnen haben den Kontakt zu ihr komplett abgebrochen. „Nach meinen Recherchen habe ich wohl drei Enkelkinder“, sagt sie, „aber ich weiß es nicht genau.“ Wie gerne würde sie die Enkel einmal sehen, wie gerne würde sie an deren Leben teilhaben.
Selbsthilfegruppe gegründet
Die 66 Jahre alte Hochsauerländerin hat in diesem Jahr eine Selbsthilfegruppe für verlassene Angehörige gegründet. Weil in der Gruppe großer Wert auf Anonymität gelegt wird, will sie nur mit ihrem Vornamen in der WESTFALENPOST erscheinen. Aber sie will unbedingt ihre Geschichte erzählen, „weil es mehr Menschen gibt, als wir denken, die unter der Funkstille zu direkten Angehörigen leiden. Aber das darf keiner wissen. Man baut eine Fassade auf, um nach außen das Bild einer heilen Welt zu vermitteln.“ Bettina hat für sich entschieden, das Thema aus der Tabuzone zu holen: „Ich stehe dazu.“
Bettinas sechs Kinder – heute zwischen 25 und 40 Jahre alt – wuchsen in einer Alkoholiker-Familie auf. Der Vater und Ehemann konsumierte große Mengen Alkohol, kiffte und lag irgendwann im Tagesverlauf zugedröhnt auf dem Sofa. „Er trank heimlich. Die Kinder haben zwar mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Letztlich wussten sie aber nicht, was los war, und konnten entsprechend nicht damit umgehen. In unserer Familie wurde nicht über Alkohol gesprochen.“
Angehörige von Alkoholikern in einer Co-Abhängigkeit
Heute weiß Bettina, dass sich die Angehörigen von Alkoholikern in einer Co-Abhängigkeit befinden: „Familienleben im eigentlichen Sinne findet nicht statt. Man ist permanent im Stress, der Respekt zueinander geht verloren. Wir waren alle Opfer des Alkohols.“
Bettina war sozusagen das Mädchen für alles in der Familie: „Ich habe den Haushalt geschmissen, mich um den Garten gekümmert, meine Kinder in schulischer und beruflicher Hinsicht auf einen guten Weg gebracht – und habe gearbeitet, damit wir unser Haus halten können und etwas zu essen haben.“ Durch den Alkoholkonsum des Ehemannes sei so viel Geld draufgegangen, dass sie ständig Existenzängste gehabt habe. „Ich musste dennoch die starke Mutter sein. Mit sechs Kindern hatte ich aber keine Kapazitäten, sie zu fragen, wie es ihnen geht oder was sie gerade bedrückt. Man ist in so einer Situation nicht offen für die Gefühlswelt seiner Kinder.“
Vor neun Jahren nahm Bettina allen Mut zusammen und setzte ihren Ehemann vor die Tür. Nach 23 Ehejahren. „Ich habe anschließend bei null angefangen“, sagt sie. Seit drei Jahren ist sie geschieden, ein „Rosenkrieg um nichts“ setzte ihr zu. Dennoch: „Die Entscheidung zur Trennung habe ich keine Sekunde bereut“, sagt sie in der Rückschau. Allerdings hatte die Trennung schwerwiegende Folgen: „Der Rauswurf meines Ex-Mannes war der Knackpunkt in der Beziehung zu meinen Kindern.“
„Der Rauswurf meines Ex-Mannes war der Knackpunkt in der Beziehung zu meinen Kindern.“
Die beiden ältesten Kinder waren zu dem Zeitpunkt bereits ausgezogen, die restlichen folgten nach und nach. Das letzte Kind verließ 2019 sein Elternhaus – sobald es das Erwachsenenalter erreicht hatte. Zurück blieb eine Mutter, die sich ein ums andere Mal fragte, warum es so weit gekommen ist und was sie womöglich falsch gemacht habe. „Womöglich wollten sie nicht akzeptieren, dass ich zum ersten Mal nach 23 Ehejahren an mich selbst gedacht habe. Vielleicht denken sie, dass ich sie besser hätte unterstützen müssen oder mich eher trennen müssen, vielleicht hatten sie die Faxen dicke und wollten einfach nur mit der Vergangenheit abschließen. Ich weiß es nicht.“
So wie Bettina ergeht es vielen verlassenen Angehörigen, wie sie durch die Gespräche mit anderen Betroffenen in ihrer Selbsthilfegruppe weiß: „Verlassene wissen in der Regel nicht, warum Kinder ihre Zelte abbrechen.“ Diese Unsicherheit sei extrem belastend, sagt sie. Hinzu kämen – gerade in der Anfangszeit – Gedanken, wer schuld an dem Zerwürfnis sei. Jedoch: „Schuldzuweisungen bringen nichts. Sie sind sogar kontraproduktiv.“
Ein Sohn lebt wieder zu Hause
Seit einigen Jahren lebt ein Sohn wieder in seinem Elternhaus. „Er kam mit einem Blumenstrauß und wollte mit mir reden“, erinnert sie sich. Es habe jedoch einige Zeit gedauert, bis sie sich wieder angenähert hätten, „endlich mal offene Gespräche geführt haben. Zu viel ist damals kaputtgegangen.“ Der 30-Jährige renoviere seit seinem Wiedereinzug das Gebäude, gestalte die Räume neu, erzählt Bettina. „Er will so einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen.“
Bettina selbst hat lange unter dem Familien-Zerwürfnis gelitten, dass sie bei Hochzeiten ihrer Kinder oder an deren Geburtstagen „nicht erwünscht“ sei: „Das macht einen krank.“ Bei einem Therapeuten habe sie Hilfe bekommen, „Abstand zu gewinnen und darauf zu achten, dass es mir gut geht“. So könne sie heute sagen, dass sie „seit ein, zwei Jahren meinen Frieden mit der Situation geschlossen“ habe.
Sie will ihre Erfahrungen in ihrer Selbsthilfegruppe weitergeben: „Darüber zu reden, hilft einem ungemein“, sagt Bettina, die noch mehr verlassene Angehörige animieren möchte, offen damit umzugehen: „Insbesondere Männer wollen sich nach wie vor keine Blöße geben. Aber es bringt nichts, im Jammertal zu verbleiben.“
Gesprächsversuch beim Grillen
Vor vier Jahren haben vier der sechs Kinder und Bettina versucht, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. „Wir trafen uns zum Grillen“, erzählt die 66-Jährige. Der damalige Burgfrieden sollte nicht lange halten: „Wir sind nicht richtig ins Gespräch gekommen“, sagt Bettina, keine Chance, die gemeinsame Vergangenheit aufzuarbeiten: „Ich vermute, dass meine Kinder noch Zeit benötigen.“
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Bettina schaut nach vorne und spricht von der „Rest-Hoffnung“, die sie habe, eines Tages doch wieder Kontakt zu den Kindern zu haben. „Ich habe lange darauf gewartet, dass sie sich melden. Jetzt bin ich nicht mehr in einer Erwartungshaltung, dass es passiert“, sagt Bettina am Ende des Gesprächs. Sie erhebt sich aus ihrem Sessel im Wohnzimmer und geht zur Haustür. „Aber ich würde mich riesig freuen.“
Die Alben mit den Familienfotos jedenfalls wird Bettina weiter hüten wie einen Schatz. „Meine Söhne und Töchter bleiben ja meine Kinder“, sagt sie und ergänzt: „Ich werde mir auch in Zukunft immer mal wieder die Bilder anschauen. Aber nur, wenn ich gut drauf bin.“
Informationen:
Selbsthilfegruppe „Verlassene Angehörige“: Tel. 0176 38575148 (Bettina) oder 02932 201 2270 (Selbsthilfekontaktstelle Hochsauerland).