Essen. Wirtschaft fordert längere Arbeitszeiten, der Nachwuchs kürzere. Warum der Zeigefinger auf die faule Jugend daneben zielt und was wirklich hilft.
Eigentlich, findet Industriepräsident Siegfried Russwurm, müssten die Leute länger arbeiten, am besten 42 Stunden die Woche. Angesichts des wachsenden Fachkräftemangels hat er damit recht. Eigentlich würden sie gerne weniger arbeiten, vielleicht 35 oder auch 30 Stunden, finden allerdings viele junge Frauen und Männer. Mit Blick auf ihre Lebensqualität und Gesundheit haben auch sie zweifellos recht. Dass beides nicht zusammenpasst, ist offensichtlich.
Deswegen reden Arbeitgeber und die sogenannte Gen Z der Jugendlichen und jungen Erwachsenen oft aneinander vorbei. Die Wirtschaft bringt das in ein Dilemma. Wie kommen wir da raus? Lassen sich eine bessere Work-Life-Balance und eine auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaft überhaupt versöhnen?
Die aktuelle Wirtschaftskrise ändert nichts am Fachkräftemangel
Aktuell schrumpft die deutsche Wirtschaft, nach vielen stabilen bis guten Jahren baut die Industrie Stellen ab, die Arbeitslosigkeit steigt wieder leicht an. Krisen wie diese sind für Gewerkschaften oft ein Signal, Arbeitszeitverkürzungen zu fordern, um die gleiche Arbeit auf mehr Menschen zu verteilen und so Jobs zu retten. Demnach käme die Gen Z mit ihrem Wunsch nach mehr Freizeit gerade recht.
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Völlig falsch, sagen die Wirtschaftsverbände. Denn trotz der Krise ist der Fachkräftemangel keineswegs aus der Welt: Rund 1,3 Millionen Stellen können laut Bundesagentur für Arbeit derzeit nicht besetzt werden. Vielen Betrieben geht der Nachwuchs aus, nicht wenige schreiben offene Stellen gar nicht mehr aus, weil sich auf ihre letzten Jobangebote niemand mehr beworben hat. Kleinen Handwerksbetrieben ergeht es so, Bäcker und Fleischer finden weder für Bäckerei und Metzgerei noch für den Verkauf vorne am Tresen Nachwuchs.
Und es sind keineswegs nur die eher mittelmäßig bezahlten und wenig beliebten Berufe, die über Personalmangel klagen, der plagt auch den Ingenieurs- und IT-Fachkräftemarkt schon seit Jahren, selbst die Ärzte gehen Deutschland aus, ganz zu schweigen von Alten- und Krankenpflegerinnen und -pflegern. Kürzere Arbeitszeiten würden die Lage vieler Betriebe und Unternehmen weiter verschärfen. In vielen sammeln die unterbesetzten Belegschaften abertausende Überstunden an, aus Belastung wird Überlastung, die Krankenstände steigen, es drehen sich fatale Abwärtsspiralen.
Bequeme Jugendliche, sture Arbeitgeber? Stereotypen gehen am Thema vorbei
Ob daran bequeme Jugendliche oder sture Arbeitgeber schuld sind, ist zunächst zweitrangig, mit Stereotypen geführte Debatten führen zu nichts. Ganz oben steht die Frage, wie die deutsche Arbeitsgesellschaft darauf reagieren sollte. Er habe „große Sympathie für eine optionale Erhöhung der Wochenarbeitszeit – natürlich bei vollem Lohnausgleich“, sagte Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, unlängst unserer Redaktion. Klar: Wenn alle mehr arbeiten würden, bräuchten Pflegeheime, Industrieunternehmen und Handwerksbetriebe insgesamt weniger Arbeitskräfte.
Doch so simpel diese Logik ist, so hart kollidiert sie mit der Logik des Arbeitsmarktes: Je knapper und begehrter Fachkräfte sind, desto besser ist ihre Verhandlungsposition in Vorstellungsgesprächen. Lieber nur eine 80-Prozent-Stelle, mindestens zwei Tage Homeoffice die Woche und bitte Gleitzeit – Arbeitgeber, die dringend auf neue Kräfte angewiesen sind, können derlei Forderungen nur schwer ablehnen, wollen sie nicht leer ausgehen. Ein Stellenprofil nach altem Muster, also mit 40-Stunden-Woche und dem Hinweis auf die Bereitschaft zu Überstunden, wirkt heute eher abschreckend.
Warum Personlchefs den Wünschen der Bewerber häufiger nachgeben
Deshalb ist es in der Praxis längst so, dass viele Personalchefinnen und -chefs den Bewerbern lieber entgegenkommen, als eine Stelle noch länger unbesetzt zu lassen. Zumal sie sich im Kampf um die Köpfe gegen ihre Konkurrenz durchsetzen müssen, die über die gleichen Nachwuchsprobleme klagt. Ganze Branchen kämpfen gegeneinander, in Dienstleistungsberufen etwa sind die Grenzen fließend, gute Bürokaufleute, Softwareentwickler und selbst Handwerker werden in vielen Wirtschaftszweigen gesucht.
Zuweilen werben Wohnungskonzerne dem kleinen Heizungs- und Sanitärbetrieb die Gesellen ab, wechseln kaufmännische Angestellte aus der Industrie in die Finanzwelt und Journalisten in die PR. Alle ziehen an der gleichen, zu dünnen Personaldecke. Den Zuschlag erhält der Arbeitgeber mit den besten Bedingungen, dem besten Arbeitsklima und den flexibelsten Arbeitszeiten. Wer das nicht bieten oder es sich nicht leisten kann, geht leer aus.
Forderungen nach längerer Wochenarbeitszeit gehen ins Leere
Was bedeutet: Forderungen von Verbänden und Parteien, die Deutschen müssten wieder mehr arbeiten, sind verständlich, gehen aber ins Leere, weil sich vor allem im Fachkräftebereich nicht mehr die jungen Frauen und Männer bei den Unternehmen bewerben, sondern die Unternehmen bei ihnen. Persönliche Wünsche bekommen mehr, tarifliche Arbeitszeitvorgaben weniger Gewicht.
Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit ist parallel zum wachsenden Fachkräftemangel gesunken, einer DIW-Studie zufolge seit 1991 um zweieinhalb Stunden. Laut Statistischem Bundesamt lag Deutschland mit einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 34,7 Stunden zuletzt auf dem drittletzten Platz der 27 EU-Staaten.
Umfragen unterfüttern manch Vorurteil gegen die Gen Z
Die Arbeitgeber wollen sich damit nicht abfinden, richten ihren Groll teils massiv gegen die sogenannte Gen Z, mit der alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen gemeint sind. Sie seien faul und wenig belastbar, aber anspruchsvoll und fordernd, so die gängigen Vorurteile. Die werden in einigen Studien und Umfragen unterfüttert: In einer Civey-Umfrage unter Entscheidern für die Wirtschaftswoche sagten zwei von drei Führungskräften, die Gen Z lege zu großen Wert auf ihre Work-Life-Balance. Knapp die Hälfte kritisiert zudem, sie stelle zu hohe Anforderungen.
In einer Umfrage der Wirtschaftsjunioren Deutschland unter 15- bis 25-Jährigen gaben diese an, was ihnen bei der Jobwahl am wichtigsten ist: Das Gehalt (81 Prozent), dicht gefolgt von einer guten Work-Life-Balance (74 Prozent) und der Aussicht auf abwechslungsreiche Tätigkeiten (71 Prozent). Und der Hochschul-App Uni Now sagte jeder dritte von 500.000 Studierenden, er wolle beim Eintritt ins Berufsleben in Teilzeit arbeiten – bevorzugt mit flexiblen Arbeitszeiten. Nur jeder Fünfte interessiert sich für eine Vollzeitbeschäftigung mit einer 40-Stunden-Woche. Was Personalchefs noch aufhorchen lassen sollte: In der Gen Z würden acht von zehn Beschäftigten den Job für ein besseres Gehalt, eine spannendere Tätigkeit oder besseres Arbeitsklima wechseln.
Da ist es kein Wunder, dass die Debatte über eine Vier-Tage-Woche immer wieder die Runde macht. Befeuert von erfolgreichen Pilotprojekten in England, Irland und zuletzt auch Deutschland schwärmen Politiker etwa der SPD davon, dass zufriedenere Beschäftigte in vier Tagen mehr schaffen als in fünf und deshalb ein voller Lohnausgleich berechtigt sei. Parteichefin Saskia Esken sprach sich deshalb bereits für eine Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich aus. Grüne und Linke hat sie auf ihrer Seite.
CDU-Vize Kretschmer fordert „die 40-Stunden-Woche für alle“
Die Union hält voll dagegen: Eine solche Politik führe „in den Staatsbankrott“, sagte Michael Kretschmer dem „Handelsblatt“. Der CDU-Vize und sächsische Ministerpräsident fordert: „Wir müssen dafür sorgen, dass wir mit Wachstum und Vollbeschäftigung – das bedeutet für mich die 40-Stunden-Woche für alle – aus der Krise kommen.“ Da wären wir wieder beim Rezept Nummer eins der Arbeitgeberverbände gegen den Fachkräftemangel. Und bei ihrem Dilemma, das in der Praxis mangels Bewerberansturm gar nicht umsetzen zu können.
Ist die deutsche Wirtschaft also dem Untergang geweiht, weil unsere Jugend keinen Bock mehr auf allzu harte Arbeit hat? Vier Argumente dagegen:
- Keine Generation ist jemals einem gemeinsamen Zeitgeist gefolgt, die Pauschalierung an sich wird dem Einzelnen nie gerecht. So teilen die Generation Z, Y (Millenials), X und die Babyboomer im Kern ihren Wunsch nach einem gut bezahlten, abwechslungsreichen und sicheren Job in angenehmem Arbeitsklima, nur haben sich die Prioritäten mal mehr und mal weniger verschoben. Dies sicher auch, weil die älteren Jahrgänge in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit gar nicht die Chance hatten, irgendwelche Annehmlichkeiten zu fordern und deshalb gar nicht erst daran gedacht haben. Und die Bereitschaft, den Arbeitgeber zu wechseln, ist heute größer, weil das viel leichter fällt als früher.
- Die Gen Z ist nur deshalb in der Position, mehr fordern zu können, weil sie so klein und deshalb begehrt ist. Die Demografie gerät ihr hier zum Vorteil, während sie ansonsten nur Nachteile für die Jüngeren mit sich bringt, vor allem bei der Rente. Wenn eine Generation der anderen den demografischen Wandel vorwerfen könnte, dann die Gen Z den Babyboomern, also ihren Eltern, die zu wenige Kinder in die Welt gesetzt haben. Stattdessen sind es meist Babyboomer, die von der Gen Z verlangen, die Folgen der Demografie mit Mehrarbeit und höheren Sozialbeiträgen aufzufangen.
- Die Gleichung längere Wochenarbeitszeiten = größere Jahresarbeitsleistung hinkt gewaltig. Diverse Studien haben einen Zusammenhang zwischen langen Arbeitszeiten und längeren Ausfallzeiten, etwa durch Burnout, nachgewiesen. Und es bleibt nicht bei psychischen Erkrankungen: Eine kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Studie unter 600.000 Menschen kommt zu dem Ergebnis, dass eine 45-Stunden-Woche das Risiko für einen Schlaganfall im Vergleich zu einer Arbeitszeit zwischen 35 und 40 Stunden um ein Drittel erhöht. Auch Herz-Kreislauf-Krankheiten häufen sich bei Menschen, die überdurchschnittlich viel arbeiten.
- Dass Arbeitgeber sich heute um ihrer selbst willen bemühen müssen, gute Bedingungen und flexible Arbeitszeiten zu bieten, kommt allen zugute, auch den älteren Kolleginnen und Kollegen. Zugleich ermöglicht es vielen Menschen, vor allem Frauen erst, arbeiten zu gehen. Gäbe es immer noch überall starre Arbeitszeiten und Anwesenheitspflicht, müssten viele junge Eltern, in der großen Mehrzahl Frauen, zu Hause bleiben.
Dass der Fokus auf die Wochenarbeitszeit auch statistisch viel zu eng ist, zeigt diese Zahl: Obwohl der Einzelne in Deutschland durchschnittlich immer weniger arbeitet, steigt die Gesamtarbeitszeit sehr kontinuierlich seit vielen Jahren an. So arbeiteten die Menschen in Deutschland im vergangenen Jahr mit 55 Milliarden geleisteten Stunden so viel wie nie zuvor. Einfach, weil mehr Menschen arbeiten.
Mehr Frauen in mehr Teilzeit: Auch das senkt die Pro-Kopf-Arbeitzeit
Der Grund ist vor allem, dass immer mehr Frauen berufstätig sind. War noch vor 30 Jahren nur gut jede zweite Frau in Deutschland erwerbstätig (55 Prozent), sind es heute fast drei von vier (73,6 Prozent). Da Frauen sich nach wie vor häufig auch um ihre Kinder oder zu pflegenden Angehörigen kümmern, arbeiten viele nur Teilzeit. Das senkt statistisch die durchschnittliche Pro-Kopf-Arbeitszeit, ist aber für den Arbeitsmarkt trotzdem ein Gewinn. Da die Erwerbsquote der Männer immer noch deutlich höher liegt (80,8 Prozent), schlummert im weiblichen Teil der Bevölkerung nach wie vor noch großes Potenzial.
Ebenso unter den Migranten: Von den Flüchtlingen aus Syrien hat nicht einmal jeder dritte einen sozialversicherungspflichtigen Job, von jenen aus der Ukraine arbeiten noch weniger. Es ist die Bundesagentur selbst, die nicht in mangelnder Motivation der Flüchtlinge das Hauptproblem sieht, sondern in der deutschen Bürokratie. Die ewigen Wartezeiten vor allem auf die Anerkennung der Berufsabschlüsse halten sie vom Arbeitsmarkt fern. Arbeitgeberpräsident Arndt Kirchhoff und IG-Metall-NRW-Chef Knut Giesler kritisieren das ebenso wie Bundesagentur-Landeschef Roland Schüßler und der Bochumer Wirtschaftsweise Martin Werding.
Mäßige Bedingungen und politisches Klima schrecken Arbeitsmigranten ab
Das schreckt auch Zuwanderer ab, die nicht vor Kriegen flüchten, sondern als Arbeitsmigranten kommen sollen. Eine solche gesteuerte Zuwanderung wünschen sich Arbeitgeber und die meisten Parteien, nur findet sie kaum statt, weil andere Länder bessere Bedingungen bieten. Migrationskritische bis ausländerfeindliche Tendenzen in der deutschen Parteienlandschaft tun ihr Übriges.
Mehr Menschen die Möglichkeit zu geben, arbeiten zu können, ist deshalb die größte Stellschraube im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Bei jungen Eltern wie Migranten scheitert dies oft schon an mangelnden Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder. Hier ist Deutschland viel schlechter aufgestellt als Nachbarländer wie Frankreich, Niederlande oder die skandinavischen Länder. Oft geht es darum, überhaupt in Teilzeit arbeiten zu können oder aber von 50 auf 80 Prozent aufstocken zu können.
Nicht alle müssen mehr arbeiten, sondern mehr Menschen müssen arbeiten
Wenn also gute Arbeitsbedingungen mehr Frauen, mehr Flüchtlinge und mehr Arbeitsmigranten in Beschäftigung bringen, kann die Gesamtarbeitsleistung in Deutschland deutlich steigen. Das ist realistischer als eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf dem Papier, die in der Praxis scheitert. Die Gen Z mag den Fachkräftemangel zu ihrem Vorteil ausnutzen - das kann man ihr vorwerfen, wird damit aber nichts erreichen.
Dass die Demografie nicht nur der Rente, sondern auch dem Arbeitsmarkt Probleme bereiten würde, ist seit Jahrzehnten bekannt. Es wird Zeit, die großen Weichen neu zu stellen: Deutschland muss jungen Menschen, Familien und arbeitswilligen Zuwanderern mehr bieten. Dann wird auch mehr gearbeitet.