Essen. Der Bochumer Wirtschaftsweise Martin Werding plädiert für Energiesoli und sieht im Einwanderungsgesetz der Ampel „nicht den großen Durchbruch“.
Martin Werding, der neue Wirtschaftsweise von der Ruhr-Universität Bochum, blickt aus seinem kleinen Büro ins weite Grün, das der Botanische Garten als Gegenpol zu den Bildungsbetonschiffen setzt. Er wird viel lächeln in unserem Gespräch und Worte wählen, die nicht nur seine Wirtschaftsstudierenden verstehen. Der Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen erklärt, warum auch er Besserverdienern zur Finanzierung der Krisenabwehr ans Portemonnaie will, warum der Staat den Menschen gezielter helfen sollte, das aber noch nicht kann und warum Deutschland jedes Jahr 1,5 Millionen Zuwanderer braucht.
Herr Prof. Werding, Sie sind seit drei Monaten Wirtschaftsweiser, was hat sich für Sie dadurch verändert?
Martin Werding: Natürlich die mediale Aufmerksamkeit. Vor allem aber war ich zum ersten Mal an der Erstellung des Jahresgutachtens für die Bundesregierung beteiligt – das waren sehr intensive und arbeitsreiche Wochen. Wir haben in dem neu zusammengesetzten Rat ein sehr kollegiales und produktives Miteinander gefunden, finde ich.
Das war ja nicht immer so ...
Werding (lächelt): ... habe ich auch gehört.
Ihr erstes Jahresgutachten hatte richtig Wumms, um es mit dem Kanzler zu sagen. Die fünf Weisen fordern Steuererhöhungen – das gab es noch nie. Entweder soll der Spitzensteuersatz rauf oder ein Energiesoli für Besserverdiener eingeführt werden. Dass dieser Rat einstimmig erfolgte, hat mich schon überrascht – Sie gelten nicht gerade als linker Ökonom.
Werding: Es gab sicher verschiedene Motive unter uns, warum wir das empfohlen haben, meines war die Sorge um die Staatsfinanzen. Den Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Energiekrise fehlt die Zielgenauigkeit, das macht sie sehr teuer. Eigentlich sollten wir nur jene entlasten, die die hohen Energiepreise nicht schultern können, doch die Gas- und Strompreisbremsen kommen allen zugute. Einen kleinen Betrag von denen zurückholen, die nun wirklich keine Hilfe brauchen, würde wenigstens etwas gegensteuern.
Zur Person: Martin Werding
Martin Werding (58) hat Philosophie und Volkswirtschaft studiert und über den Generationenvertrag promoviert. Von 1999 bis 2008 baute er am Münchner Ifo-Institut den neuen Bereich „Sozialpolitik und Arbeitsmärkte“ auf.
Seit 2008 hat er den Lehrstuhl für „Sozialpolitik und öffentliche Finanzen“ an der Ruhr-Universität in Bochum inne. Im September hat die Bundesregierung Werding in ihren Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung berufen.
Warum muss es denn wieder die große Gießkanne sein?
Werding: Wir haben intensiv darüber diskutiert, wie das Geld am schnellsten bei den Leuten ankommt. Das geht am besten über die Energieversorger. Die wissen aber nichts über die Einkommensverhältnisse ihrer Kunden, deshalb unser Vorschlag einer zeitlich befristeten Steuer für Gutverdiener.
Die Finanzämter wissen doch, wer wie viel verdient, warum keine Steuerrückzahlungen bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe?
Werding: Weil es viele Beschäftigte gibt, die über der Grundsicherung liegen, aber so wenig verdienen, dass die keine Steuern zahlen. Diese am stärksten betroffenen Menschen hätten wir dann nicht erreicht. Es gibt in Deutschland leider keinen geeigneten Weg, Staatshilfen zielgenauer zu verteilen.
Klingt unglaublich beim Ausmaß unserer Bürokratie ...
Werding: … weswegen wir Sachverständige ein Instrument fordern, mit dem wir in Krisen bestimmten Bevölkerungsgruppen gezielter helfen können. Das ist ein datenschutzrechtlich hochsensibles Thema, denn dafür braucht es eine Stelle mit allen dafür notwendigen Informationen. Aber anders geht es nicht, das sehen wir gerade.
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Sie haben auch Finanzminister Lindner geraten, seine ab Januar greifende Steuersenkung, die Abflachung der Progression zu verschieben. Genau das haben Ökonomen immer gefordert.
Werding: Ja, den Ausgleich für die kalte Progression bei Inflation befürworten auch im Sachverständigenrat alle. Aber manchmal sollte man Dinge, die richtig sind, besser auf Wiedervorlage legen. Aktuell gilt es auch, die Inflation zu dämpfen, dafür sind Steuersenkungen kontraproduktiv, weil sie die Nachfrage und damit die Preise weiter erhöhen.
Lindners Argument, der Staat gebe nur Geld zurück, das er gerade über die Mehrwertsteuer an der Rekordinflation verdient – klingt plausibel.
Werding: Richtig, aber wir dürfen die Staatsverschuldung nicht aus dem Blick verlieren, sondern müssen etwas tun, damit die Lasten für die kommenden Generationen nicht zu schwer werden. Die Kredite, mit denen jetzt das Sondervermögen zur Krisenabwehr bestückt wird, laufen teils bis zum Jahr 2050. Damit nehmen wir künftigen Regierungen Spielräume für Entscheidungen, die zu ihrer Zeit vielleicht genauso wichtig sind wie jetzt die Eindämmung der Energiekrise.
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Herr Prof. Werding, Sie sind der Sozialpolitik-Experte unter den Wirtschaftsweisen, haben sich im Gutachten intensiv mit der Arbeitsmigration befasst. Nun hat die Regierung die Eckpunkte für ihr Zuwanderungsgesetz vorgelegt. Wissenschaftler wie Sie und die Wirtschaft fordern das seit Jahrzehnten ein. Warum hat sich Deutschland so schwer getan damit?
Werding: Es gab vor allem bei den Gewerkschaften, aber auch in der Politik immer die Bedenken, Zuwanderung koste bei uns Arbeitsplätze und drücke die Löhne. Wir haben bei den Öffnungsschritten, etwa nach der EU-Osterweiterung, aber gesehen, dass dem nicht so ist. Stattdessen gefährdet inzwischen der Mangel an Fachkräften und auch an Geringqualifizierten bestehende Arbeitsplätze in Deutschland.
Es waren in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem die Volksparteien CDU/CSU und SPD, die sich gegen ein modernes Zuwanderungsgesetz gewehrt haben. Brauchte es dafür erst eine Koalition mit Grünen und FDP, die zusammen stärker sind als die SPD?
Werding: Vielleicht. Deutschland stand in Europa bei der Öffnung der Arbeitsmärkte immer voll auf der Bremse. Politische Opportunitäten spielen natürlich eine Rolle, die SPD hat auf ihre Arbeitnehmerbasis Rücksicht genommen, die Union auf ihre konservative Stammwählerschaft. Doch auch die großen Parteien müssen irgendwann die Realitäten anerkennen.
Nun hat die Ampel ihre Eckpunkte für das Einwanderungsgesetz vorgelegt, das Innenministerin Nancy Faeser das modernste in ganz Europa nennt. Stimmen Sie zu?
Werding (lächelt): Es ist nicht der ganz große Durchbruch, aber es ist eine weitere wichtige Weichenstellung. Die Öffnung für osteuropäische Arbeitskräfte und die Westbalkan-Regelung für Staaten des ehemaligen Jugoslawien waren ein Erfolg. Weil absehbar in der ganzen EU Fachkräfte fehlen werden, brauchen wir im nächsten Schritt mehr Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern.
400.000 jedes Jahr, sagen die Hochrechnungen, ist das realistisch?
Werding: Es müssten sogar 1,5 Millionen jedes Jahr kommen, damit wir unterm Strich auf 400.000 kommen, die bleiben, denn es wandern jährlich auch mehr als eine Million aus. Wir brauchen so viele Zuwanderer, um unsere Erwerbsbevölkerung stabil und damit unseren Wohlstand zu halten. Davon sind wir noch ein gutes Stück entfernt.
Bei solchen Zahlen kommen in der Bevölkerung Ängste vor Überfremdung hoch – und stets die Frage, warum wir nicht zuerst unsere 2,5 Millionen Arbeitslosen an die Schippe bringen?
Werding: Dabei wird vergessen, dass jedes Jahr Hunderttausende Arbeitslose vermittelt werden und etwa genauso viele arbeitslos werden, es gibt da jede Menge Bewegung. Doch vor allem Langzeitarbeitslose passen häufig nicht auf die Stellen, die gerade frei sind, oft fehlt die Qualifikation. In einigen Berufen ist der Arbeitsmarkt regelrecht leer gefegt. Eine Stelle zu besetzen, dauert durchschnittlich 120 Tage – die Stellen, die nicht besetzt oder mangels Erfolgsaussicht gar nicht erst ausgeschrieben werden, noch nicht mitgezählt.
Die Regierung will auch Einwanderer ins Land lassen, die noch kein Arbeitsangebot haben. Droht damit nicht eine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme?
Werding: Nein, denn sie haben keine Ansprüche an unseren Sozialstaat, sondern kämen auf eigenes Risiko nach Deutschland. Deshalb glaube ich auch nicht, dass viele diese Möglichkeit nutzen werden. Aber es ist richtig, solche Neuerungen ins Schaufenster zu stellen. Wir müssen schließlich erst noch den Eindruck erwecken, dass wir Zuwanderung wirklich wollen. Und ob Deutschland innerlich darauf eingestellt ist, muss sich auch erst noch zeigen.
Was müssen wir noch verändern?
Werding: Ein großes Hemmnis bleibt, dass viele Berufsabschlüsse bei uns nicht anerkannt werden. Was klar ist, weil es unser duales Ausbildungssystem so nur bei uns und außerhalb Europas nirgends gibt. Wir verlangen alle möglichen Dokumente, doch damit greifen wir international ins Leere. Deshalb müssen wir Teilqualifikationen anerkennen, im Zweifel muss auch einfach die Berufserfahrung reichen. Alles weitere sollten Arbeitgeber im Betrieb mit Beschäftigten klären.
Dann fehlt nur noch eine neue Willkommenskultur in den Ausländerbehörden.
Werding: Wir sollten auf Länderebene Serviceagenturen für Einwanderung schaffen. Denn in der Tat stimmt in den Ausländerbehörden die Kultur nicht, sie erwecken oft den Eindruck, Einwanderung vor allem verhindern zu wollen. Wir hier im Institut lassen ausländische Studierende oder Forscher, die wir beschäftigen wollen, jedenfalls nicht allein zum Ausländeramt gehen. Denn so, wie sie dort zuweilen behandelt werden, fragen sie sich anschließend: „Wollen die mich hier wirklich haben?“
Wie wichtig ist die Senkung der Einkommensgrenzen, ab der Arbeitsmigranten kommen dürfen?
Werding: Die bisherigen Grenzen sollten den klassischen Industriearbeiter schützen und Einwanderung verhindern, nicht zufällig lagen sie dort, wo die außertariflichen Löhne begannen. Das muss geändert werden, wir Sachverständige hätten uns noch niedrigere Grenzen gewünscht.
Herr Prof. Werding, Ihr größtes Steckenpferd ist die Rentenpolitik. Ist mehr Zuwanderung auch der Schlüssel zur Rettung unseres Rentensystems?
Werding: So viel Zuwanderung, wie wir dafür bräuchten, wird es nicht geben. Aber natürlich: Mehr Arbeitsmigration ist neben vielen anderen Dingen unverzichtbar, um unser Rentensystem halbwegs stabil über die nächsten 15 Jahre zu bringen.