Essen. Die Deutschen galten stets als arbeitsam und pflichtbewusst. Neue Statistiken behaupten das Gegenteil. Wie steht‘s um die Arbeitsmoral?

Der Deutsche ist fleißig, pünktlich und arbeitsam - oder nicht? Neuste Statistiken lassen Zweifel an der lange gepflegten Mär vom fleißigen Deutschen aufkommen. Die wichtigsten Zahlen im Überblick:

Wie viel arbeiten die Deutschen?

Ein Blick in die Statistik der OECD kann erschrecken. Im internationalen Ranking der Industrienationen steht Deutschland in Sachen Arbeitszeit abgeschlagen auf dem letzten Platz. Gerade einmal 1340 Stunden im Jahr geht der durchschnittliche deutsche Beschäftigte seinem Beruf nach. In jedem anderen Land innerhalb der OECD kommt ein Erwerbstätiger im Schnitt auf mehr Stunden im Jahr.

Das Ranking räumt sogar mit manch einem Klischee auf: Griechen, die sich in der Finanzkrise noch gegen so manches Vorurteil wehren mussten, arbeiten im Durchschnitt 1886 Stunden im Jahr. In Italien, dem Land der „dolce vita“, kommen Beschäftigte auf durchschnittlich 1694 Stunden. Besorgniserregend für viele Fachleute ist dabei die Entwicklung: 1991 haben Beschäftigte in Deutschland noch durchschnittlich 1554 Stunden im Jahr mit ihrer Arbeit verbracht.

Wie nah sind wir an der Vier-Tage-Woche?

Wer in Deutschland Vollzeit beschäftigt ist, arbeitet laut OECD-Vergleich im Schnitt 40,3 Stunden. Damit liegt Deutschland im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Zum Vergleich: In der Schweiz arbeiten Vollzeitkräfte durchschnittlich 43,3 Stunden, in Finnland 38,7.

Rechnet man den Teilzeit- und Vollzeitkräfte zusammen, kommen Erwerbstätige in Deutschland allerdings nur auf 34,7 Wochenstunden. Das ist fast ein Arbeitstag weniger als in Griechenland (41 Wochenstunden).

Gibt es auch Grund zu jubeln?

Während die durchschnittlichen Arbeitszeiten heruntergegangen ist, ist die Beschäftigung insgesamt gestiegen. 2003 etwa waren laut Bundesstatistikamt gerade einmal 64,9 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter in Lohn und Brot. 20 Jahre später waren es 77,2 Prozent. Zum Vergleich: In Griechenland liegt die Erwerbsquote nur bei 61,1 Prozent.

Der Zuwachs in Deutschland ist vor allem gelungen, weil der Anteil der berufstätigen Frauen deutlich gestiegen ist. Das zeigt der Mikrozensus: Inzwischen sind fast drei Viertel aller Frauen im Altern von 15 bis 65 Jahren berufstätig – so viele wie noch nie zuvor.

Arbeitsmarktforscher bezeichnen die hohe Frauenbeschäftigung als Erfolg: Sie ist mit ein Grund, warum insgesamt in Deutschland so viele Arbeitsstunden zusammengekommen sind wie nie zuvor: Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung haben alle Erwerbstätigen im Land 2023 zusammen 55 Milliarden Stunden gearbeitet – ein bisheriger Höhepunkt.

Der Erfolg schmälert aber die Statistik der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit, die die OECD erfasst hat. Denn es arbeiten zwar mehr Menschen, aber viele in Teilzeit. Bei den Frauen ist das etwa jede zweite (45,1 Prozent), aber auch unter den Männern ist die Teilzeitquote von 2,1 Prozent im Jahr 1991 auf inzwischen über elf Prozent gestiegen. In wenigen anderen Industriestaaten ist die Teilzeitquote so hoch wie in Deutschland.

Also alles halb so schlimm?

Der Arbeitsmarktforscher Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft mit Sitz in Köln hält den einfachen Vergleich der Arbeitszeit aller Erwerbstätigen für wenig zielführend. „Die Frage, ob in einem Land viel oder wenig gearbeitet wird, lässt sich so nicht beantworten“, sagt er. Denn nicht berücksichtigt würde, wie groß der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung ist. Genau das hat Schäfer einberechnet. Sein Ergebnis ist trotzdem ernüchternd: „Deutschland schöpft sein Arbeitskräftepotenzial deutlich schlechter aus als andere Länder.“

Konkret zeigt seine Berechnung: Pro Kopf kommt jeder Deutsche im erwerbsfähigen Alter auf 1031 Arbeitsstunden im Jahr. Die Gleichung, dass da viel gearbeitet wird, wo viele Menschen beschäftigt sind, geht aber nicht ganz auf. Die Franzosen etwa arbeiten 171 Stunden mehr im Jahr als Erwerbstätige in Deutschland, andererseits sind dort nur 68 Prozent erwerbstätig. Besonders fleißig sind der Berechnung zufolge die Neuseeländer. Dort gehe eine sehr lange Arbeitszeit von 1.748 Stunden mit einer hohen Erwerbsbeteiligung einher.

Man muss nicht lange arbeiten, um produktiv zu sein, oder?

Nicht zwangsläufig. Obwohl seit 1991 die durchschnittliche Arbeitszeit gesunken ist, ist die Produktivität je Arbeitsstunde gestiegen. Die Menschen waren also effektiver – auch dank technischer Neuerungen. Das sogenannte Produktivitätswachstum an sich flacht nach Beobachtung der Bundesbank aber ab, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Industrienationen. In den vergangenen zwei Jahren ist die Produktivität je Arbeitsstunde sogar gesunken. „Aller Technologien zum Trotz“, betont Schäfer.

Feiern wir alle zu oft krank?

Die Krankenstände erreichen immer neue Rekordwerte. 2011 kam ein Arbeitnehmer in Deutschland auf zehn Krankentage im Jahr, 2023 waren es fast doppelt so viele. Der Krankenstand lag über alle gesetzlich versicherten Beschäftigten hinweg bei durchschnittlich 5,7 Prozent. Ein Negativrekord. Zum Vergleich: Während der Finanzkrise 2007 lag der Krankenstand bei 3,22 Prozent. In Auswertungen ihrer Versichertendaten weisen Krankenkassen immer wieder auch Besonderheiten der Jüngeren aus, bei denen etwa psychische Erkrankungen immer häufiger auftreten.

Die vielen arbeitsunfähigen Beschäftigten haben Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung. Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (VFA) hat 2023 ausgerechnet, dass das Bruttoinlandsprodukt um knapp 0,5 Prozent gewachsen wäre, wenn nicht überdurchschnittlich viele Krankentage zusammengekommen wären. Stattdessen war die Wirtschaft um 0,3 Prozent geschrumpft.

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