Essen. Der Personalmangel verändert die Arbeitswelt. Was das bedeutet und wieso sich Firmen Deutsch als Barriere kaum noch leisten können.
Unlängst merkte Oliver Henrichs selbst, wie wichtig soziale Leistungen in einem Unternehmen sind. Der Personalchef der Essener Eon-Tochter Westenergie musste kurzfristig professionelle Pflege in der eigenen Familie organisieren. Statt stundenlang überlastete Pflegedienste abzutelefonieren, nutzte Henrichs ein Angebot des Energiedienstleisters.
Die „Thielkasse“, eine firmeneigene Unterstützungskasse, vermittelt Westenergie-Beschäftigten unter anderem Pflegekräfte oder Pflegeeinrichtungen. Zwei Anrufe später war die Sorge um die eigenen Angehörigen gemildert und der Kopf wieder frei. „Solche Angebote bieten eine unglaubliche Entlastung“, weiß der Personalchef. Und mehr noch: „Sie sind ein Argument für uns als Arbeitgeber.“
Rund 200 Engpassberufe in Deutschland: Der Druck steigt
Und solche Argumente werden immer wichtiger, denn vielerorten fehlt Unternehmen das Personal: Selbst unter dem Eindruck der schwächelnden Konjunktur leidet ein Drittel aller Firmen unter dem Fachkräftemangel. Betroffene Branchen sind laut einer aktuellen Umfrage des Ifo-Instituts längst nicht mehr nur die Pflege oder IT-Berufe. Vor allem im Dienstleistungsgewerbe können Stellen nicht besetzt werden, im Hotelgewerbe und in der Logistik sucht jedes zweite Unternehmen qualifiziertes Personal. Die Bundesagentur für Arbeit nannte 2022 rund 200 Engpassberufe: Es fehlen Praxisangestellte, Sanitärinstallateure, Verkäufer im Supermarkt. Und dieser Mangel wird sich durch die Babyboomer-Rentenwelle weiter verschärfen.
„Es gibt heute kaum eine Branche, die personell noch aus dem Vollen schöpfen kann“, sagt Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte beimKölner Institut der deutschen Wirtschaft. „Wir erleben überall eine Veränderung hin zu einem Arbeitnehmermarkt.“ Deutschland befinde sich im Übergang von einem Fachkräfte- zu einem Arbeitskräftemangel. „Es geht nicht mehr nur um die absoluten Spezialisten, sondern um eine große Bandbreite von Arbeitskräften, die fehlen.“
Experte: Macht der Arbeitnehmer wächst, wo der Mangel zunimmt
Und das hat Folgen, die anlässlich des Tags der Arbeit am 1. Mai Gewerkschaften und Beschäftigte freuen dürften: Die so dringend benötigten Fachkräfte werden nach Expertenansicht einflussreicher. „Je knapper Arbeitnehmer auf dem Markt werden, desto größer wird ihre Macht“, sagt Schäfer. Das ist in vielen Unternehmen längst zu spüren: Arbeitnehmer werden nach Einschätzung von Personalvermittlern, Forschenden und Firmen selbstbewusster und verändern damit zunehmend ihre Arbeitswelt.
Es geht nicht nur ums Gehalt. Beschäftigte wollten vor allem flexibler und selbstständiger arbeiten und Arbeitgeber reagieren, um sie zu halten. Denn Fluktuation ist teuer. Es gibt in Firmen verschiedenste Teilzeitmodelle, Homeoffice am Urlaubsort und je nach Unternehmensgröße soziale Leistungen, aus denen sich Beschäftigte etwas aussuchen können. Fachleute sprechen von „Cafeteria-Benefits“. Führungskräfte sollen das Sinnstiftende einer Tätigkeit herausstellen und mehr Zeit mit Mitarbeiterführung verbringen. Auch Gehälter steigen in einigen Engpassberufen durchaus: Laut Statistischem Bundesamt verdienten Krankenpflege-Fachkräfte rund 350 Euro mehr als der durchschnittliche Vollzeitbeschäftigte mit anerkannter Berufsausbildung.
Druck auf Arbeitgeber wächst
Dabei müssen Firmenchefs offenbar auch flexibler auf die umworbenen Fachkräfte schauen: Eine Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt beispielhaft für die IT-Branche, dass längst nicht mehr alle Bewerber auch alle nötigen Qualifikationen mitbringen. „Unternehmen müssen also viel perspektivischer denken und konkret überlegen, wie sie einen Mitarbeiter schulen und leiten können, damit er mittelfristig eine bestimmte Tätigkeit übernehmen kann“, sagt Experte Schäfer.
Der Aufwand für die Arbeitgeberseite ist groß. „Wir müssen uns in den Bewerbungsgesprächen deutlich mehr strecken“, sagt etwa Anna Fliegel, Leiterin der Personalentwicklung bei Westenergie. „Für uns ist es ganz normal geworden, dass Bewerber mit sehr vielen Fragen auf uns als Arbeitgeber zukommen und wir uns um die guten Leute bemühen müssen.“ Das Unternehmen beschäftigt inzwischen eine eigene Headhunterin, die gezielt in den sozialen Medien Fachkräfte sucht, und setzt auf Mitarbeiterempfehlungen. Der Druck ist groß: 2023 waren durch Verrentungen und Stellenaufbau fast 1000 Stellen zu besetzen. „Wir müssen als Arbeitgeber heute so flexibel agieren“, so Fliegel, sonst wäre das nicht gelungen.
Frauke Austermann, Fachfrau für die Transformation der Arbeitswelt an der Hochschule Niederrhein, kann der Entwicklung zum Arbeitnehmermarkt einiges abgewinnen. „Mitarbeiterbindung ist das neue Rekrutieren. Das ist eine gute Entwicklung, weil es Druck macht, Arbeit humaner und damit besser zu gestalten und damit sogar Krankheiten vermindert werden.“ Auch lange beklagte Barrieren könnte der Personalmangel einreißen: Wenn Unternehmen mehr ausländische Fachkräfte beschäftigten, werde das in Teilen auch dazu führen, dass Englisch als weitere Sprache in den Unternehmen gesprochen werde. „Deutsch ist oft eine Hürde, die sich Firmen immer weniger leisten können.“
Gewerkschaftschefin: Mentalitätswechsel bei manchen Firmen, aber nicht überall
Was macht diese neue Arbeitswelt mit jenen, die bislang an vorderster Front für Arbeitnehmerrechte und besser Arbeit gestritten haben - die Gewerkschaften? Anja Weber, Landeschefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes, warnt vor dem Schluss, dass ein Mentalitätswechsel bei manchen Unternehmen insgesamt das Ruder zugunsten der Beschäftigten herumreißt. „Gerade in Branchen, in denen der Fachkräftemangel besonders hoch ist, finden sich oft vergleichsweise niedrige Löhne und schlecht geregelte Arbeitszeiten“, so Weber.
Ein wiederkehrend genanntes Beispiel von Fachleuten ist die Pflege, in der sich Arbeitsbedingungen zwar in einzelnen Unternehmen verändert haben - eine vielfach hohe Belastung aber bleibt. „Auch der Niedriglohnbereich ist weiterhin groß“, sagt Weber weiter. „Und trotz Personalknappheit wenden immer weniger Unternehmen Tarifverträge an, die Tarifbindung in NRW ist seit Jahren im Sinkflug.“
2023 seien über 430.000 Frauen und Männer in eine der acht DGB-Gewerkschaften eingetreten, so die Gewerkschaftschefin weiter. „Gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen brauchen die Menschen Sicherheit für sich und ihre Familien“, so Weber. Mit Tarifverträgen, die Gewerkschaften aushandeln, gebe es mehr Sicherheit.
Westenergie: Neue Beschäftigte machen in vier Jahren ein Drittel der Belegschaft aus
Bei der Westenergie AG weiß man um den Weg, der noch zu gehen ist: Bis 2028, so lautet eine Prognose, machen neue Beschäftigte ein Drittel der Belegschaft aus. Um Mitarbeiter zu finden und zu binden, würden Maßnahmen immer neu überdacht und angepasst. „Es gibt nicht die eine Herangehensweise, die für alle Fälle passt“, sagt Personalchef Oliver Henrichs. Und stellt klar: Bei manchen Forderungen von Bewerbern müsse ein Wirtschaftsunternehmen auch Nein sagen. „Wir können nicht auf alles eingehen. Aber durch den Arbeitsmarkt wird ein Ruck gehen, was die Flexibilisierung von Arbeitszeit, Arbeitsort und Leistungsspektrum angeht.“