Dortmund. Mehr Zeit, weniger Arbeit: Das wünschen sich viele. Mit 35 Stunden schafft Birger Boeven Platz fürs Wesentliche – und nicht nur er profitiert.
In seiner Mittagspause geht Birger Boeven (30) im Park spazieren, seinen Hund Ben an der Leine. Dank Homeoffice und Gleitzeit kann er seine Arbeit flexibel gestalten – nur ein Teil der Freiheiten, die er bei seinem jetzigen Arbeitgeber genießt. Seit Juli lebt der Projektmanager zudem das, was sich viele wünschen: Er verabschiedet sich von dem klassischen 40-Stunden-Modell, verkürzt auf 35. Dafür gibt es zwar weniger Gehalt, aber auch mehr Freizeit. Doch anstatt die Beine hochzulegen, kümmert er sich um seine Familie und Menschen, die Hilfe brauchen.
Wer weniger arbeitet, ist faul. Mit diesem Vorwurf werden besonders häufig jüngere Generationen konfrontiert. „Ich nutze die 5 Stunden nicht dafür, mich auszuruhen“, widerspricht Boeven der Aussage. „Ich bin nicht faul.“ Das Verständnis von Arbeit habe sich aber verändert. Somit stelle sich die Frage, ob die 40-Stunden-Woche wirklich das Maß aller Dinge sei.
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„Arbeit ist der Aufwand, den man leistet, um seine Existenz zu sichern“, findet Birger und betont gleichzeitig: „Wir sind ein Rädchen im Uhrwerk der Gesellschaft, die funktionieren muss.“ Das könne er auch mit weniger Arbeit leisten. „Obwohl ich weniger arbeite, schaffe ich genauso viel.“ Inzwischen habe er sogar zusätzliche Aufgaben übernommen und werde voraussichtlich befördert. „Wenn ich ausgeglichener bin, leiste ich mehr.“
Verkürzte Arbeitszeit: Mehr Zeit für das Wesentliche – „Zeit ist unbezahlbar“
Und deswegen verabschiedet der studierte Politikwissenschaftler seinen Arbeitslaptop freitags auch mal am Vormittag in den Feierabend. Auslöser für die Entscheidung, weniger zu arbeiten, war ein längerer Krankenhausaufenthalt seiner Großeltern 2023. Heute fahre er oft direkt nach der Arbeit zu ihnen, helfe im Garten und verbringe Zeit mit ihnen. Und Boeven engagiert sich unentgeltlich: Am Wochenende arbeitet er bei der Stiftung „Help and Hope“, die sozial schwache Familien unterstützt. „Mein Antrieb ist, etwas zurückzugeben.“
Auch seine Hobbys kommen nicht zu kurz: von Aikido über Näh-Kurse bis zur Schauspielerei. Vor einem Jahr belegte er einen Improvisationstheater-Kurs, wurde inzwischen schon für kleine Laienrollen gebucht. Stundenreduzierung sei dank, kann er sich bei einem anstehenden Dreh problemlos halbe Tage freinehmen, ohne Minusstunden anzuhäufen. „Dadurch kann ich in eine andere Welt eintauchen“, sagt der 30-Jährige.
Die 40-Stunden-Woche als Auslaufmodell?
Ob er irgendwann zur 40-Stunden-Woche zurückkehren wird, lässt er offen. „In einer Welt, in der alles teurer wird, könnte es schon sein, dass ich finanziell wieder aufstocken muss.“ Für ihn steht jedoch fest: „Zeit mit den Menschen, die man liebt, ist unbezahlbar.“ Solange er die Möglichkeit dazu hat, werde er die reduzierte Arbeitswoche daher nutzen. Wenngleich er weiß, dass es ein „maximaler Luxus“ ist, der vielen vorenthalten ist.
Auch weiß er, dass es Konsequenzen hätte, wenn sich jeder Arbeitnehmende für seinen Weg entscheiden würde. Klar habe es Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung in Deutschland, wenn Beschäftigte insgesamt weniger arbeiteten. Die Frage sei: „Müssen wir sie aufrechterhalten? Müssen wir immer mehr Autos kaufen, immer höhere Häuser bauen? Jeder hat ein Mindestmaß an Dingen, die er braucht und wenn das erreicht ist, stellen wir vielleicht fest, dass auch die Hälfte der Arbeit ausreichen könnte.“
„Zeit mit den Menschen, die man liebt, ist unbezahlbar.“
Dass Menschen, die auch mal als Workaholics bezeichnet werden, freiwillig mehr als 40 Stunden arbeiten, kann Boeven dennoch nachvollziehen. „Wer für eine Sache brennt, investiert mehr. Die Trennung zwischen Privatleben und Arbeit fällt dann weg.“ Das Gefühl, sich auch um 1 Uhr nachts nochmal an den PC zu setzen, kenne er auch. Während seines Studiums gründete er ein soziales Start-up und investierte jede freie Minute in seinen Traum, abgehängten Menschen eine Jobperspektive zu geben. „Abschalten war schwer“, blickt er heute zurück.