Witten. Im Knast geboren, dann adoptiert. Später ohne Job und obdachlos. Anna (59) aus Witten erzählt ihre Geschichte von der Suche nach ein wenig Glück.
Diese Weihnachtstage werden für eine 59-jährige Wittenerin, nennen wir sie Anna, anders als in den Jahren zuvor. Dass sie das Fest mit ihrem Lebenspartner in ihrer eigenen kleinen Wohnung in Annen feiern kann, ist für sie etwas ganz Besonderes. Glitzernde Deko, ein kleines Bäumchen, vielleicht sogar Geschenke – das hat es in den letzten Jahren nicht gegeben. Denn Annas Leben verlief nicht immer in geordneten Bahnen. Hier erzählt sie ihre Geschichte – offen und schonungslos.
Die Frau, die mir in einem Raum der Wohnungslosenhilfe an der Röhrchenstraße gegenübersitzt, ist schmal. Sie hat das Haar zum Pferdeschwanz gebunden, trägt Jeans, einen hellen Wollpullover und ein graues Tuch mit pinkfarbenen Sternen. Ihr ungeschminktes Gesicht erzählt von dem, was sie durchgemacht hat. Nicht alles war schlecht im Leben der neunfachen Mutter. Doch schon der Start verlief denkbar ungünstig.
Als Baby kam Anna ins Heim
Anna, das hat sie viel später erfahren, wurde im Gefängnis geboren: in der Justizvollzugsanstalt Bochum, wo ihre hochschwangere Mutter wegen Körperverletzung einsaß. Sie hatte sich gegen ihren gewalttätigen Mann zur Wehr gesetzt, erzählt Anna. Das Baby kam ins Heim. Anna war ein Jahr alt, als ein kinderloses Bochumer Paar die Kleine adoptierte. „Dort hatte ich ein gutes Leben“, erinnert sie sich. „Ich konnte mich auf meine Eltern verlassen, musste mich um nichts kümmern.“ Als Mutter und Vater starben, begann für sie eine schwierige Zeit.
Ihre Lehre als Büglerin hatte Anna da schon abgebrochen – sie hatte Probleme mit dem Arm. Das Elternhaus lag mitten im Wald. Nicht der richtige Ort für eine 22-Jährige, befand sie. Sie wollte weg. Hat alles aufgegeben und ging nach Berlin. „Ich konnte die Situation damals überhaupt nicht richtig einschätzen.“ Sie arbeitete ein Jahr lang in einem Hotel, kehrte zurück, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, ging hauptsächlich putzen.
Mit 28 lernte Anna ihre leibliche Mutter kennen
Mit sieben Jahren hatte sie erfahren, dass sie ein Adoptivkind war. Später versuchte sie, über das Rote Kreuz ihre leibliche Mutter zu finden. „Ich wollte wissen, wo ich herkomme.“ 28 war Anna, als sie ihr erstmals gegenüberstand – und da plötzlich auch noch zehn Geschwister waren. Der Kontakt blieb eher lose. Inzwischen ist die Mutter seit fast elf Jahren tot.
Anna hat selbst nie geheiratet, will es auch nicht. Hat mit den drei Vätern ihrer neun Kinder zeitweise zusammengelebt. „Nur einer hat mich unterstützt, die anderen haben sich vom Acker gemacht.“ Anna lebte von den Zuwendungen der Ämter. „Es hat alles nicht so geklappt.“ Als die Kinder aus dem Haus waren, hat sie noch mal versucht, sich aufzuraffen. Hat in Minijobs gearbeitet, in Krankenhäusern und Schulen geputzt. Einen richtigen Plan hatte sie nicht. Irgendwann machte die Wirbelsäule Probleme. Auch ihr Lebenspartner, von dem sie immer mal wieder getrennt war und mit dem sie jetzt seit 13 Jahren wieder zusammen ist, hatte etliche Tiefpunkte.
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Dass es noch schlimmer kommen könnte, hatte Anna nicht erwartet. Als sie gerade zu ihrem Freund gezogen war, wurde die Wohnung beim Jahrhunderthochwasser 2021 überflutet. Fast ihre ganze Habe und viele Papiere – einfach weg. Das Haus sollte renoviert werden, doch nichts geschah. Das Paar bemühte sich um eine andere Wohnung – vergeblich. „Das war krass.“
Die Wohnungslosenhilfe
Die Wittener Wohnungslosenhilfe der Diakonie Mark-Ruhr hat im Juni ihre letzte verlässliche Zahl für das laufende Jahr erstellt. Danach wurden 212 Personen beraten. Im gesamten Jahr 2022 hat das Team 515 Personen beraten. Vermutlich werde es aber noch eine kleine Dunkelziffer geben, also Menschen, die bei Bekannten schlafen, keine eigene Wohnung angemietet haben oder keine Unterstützung benötigen.
Die Wohnungslosenhilfe würde sich sehr über Spenden von Winterbekleidung freuen. Diese können Montag bis Freitag zwischen 8.30 und 12 Uhr an der Röhrchenstraße 10 oder nach telefonischer Vereinbarung (02302 9148424) vorbeigebracht werden.
Zwei Jahre haben Anna und ihr Freund dann auf der Straße gelebt. Haben auf Bänken am Bahnhof übernachtet. Immer abwechselnd ein bisschen gedöst. „Schlafen konnte ich nicht.“ Zu groß war die Angst, überfallen zu werden. Sie hat viel geweint in dieser Zeit. Von ihren Geschwistern kam damals keine Hilfe. Ab und zu konnten sie in Abrisshäusern oder bei Bekannten unterkommen, die selbst wussten, wie es ist, obdachlos zu sein. „Ich hatte keine Kraft, mich um irgendwas zu kümmern. Ich wollte nicht mehr. Es ging alles an mir vorbei. Eigentlich war das Leben für mich zu Ende.“
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Dann erfuhr das Paar über einen Bekannten zufällig von der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Mark-Ruhr. „Dass es so was gibt, wusste ich nicht.“ Es sei ihr nicht leicht gefallen, um Hilfe zu bitten. Aber es war ihre Rettung. Die Mitarbeiter der Beratungsstelle unterstützten sie bei Anträgen und Amtsgängen. Im Mai 2023 konnten sie eine kleine Wohnung in Annen beziehen. Eine ihrer Schwestern half mit Möbeln aus. Die erste Nacht im eigenen Bett: „Es war so ruhig. Ich konnte endlich wieder durchschlafen.“
Anna hat jetzt einen Job
Seit November hat Anna sogar einen Job – in Küche und Kleiderkammer der Wohnungslosenhilfe. „Ich bin den Menschen dort so dankbar.“ Die Arbeit macht ihr Spaß. „Es fühlt sich gut an, den Obdachlosen helfen zu können. Ich denke oft: So warst du auch mal.“
Das erste Weihnachtsfest im eigenen Heim – Anna und ihr Partner werden es genießen. Die Wittenerin hat alles schön geschmückt. Dekorieren ist ihre Leidenschaft. Der älteste Sohn, der in Zürich lebt, wird Heiligabend kommen. Es soll Gans, Rotkohl und Klöße geben – wie früher bei den Adoptiveltern. Anna ist sicher: „Jetzt geht es wieder bergauf.“