Witten. Serdar und Rabia aus Witten haben ein Pflegekind aufgenommen. Irgendwann muss das Kleinkind sie wieder verlassen. Wie packt man das?

110 Familien in Witten leisten Großes. Sie haben sich entschlossen, ein Pflegekind aufzunehmen, das das Jugendamt aus seinem eigentlichen Zuhause herausgenommen hat. Sich um ein anderes Kind kümmern, das schon ein schweres Schicksal zu schultern hat, sein eigenes Leben so umkrempeln - warum macht man das? Ein Wittener Ehepaar erzählt.

Serdar und Rabia A. sind erst seit drei Monaten Eltern. Ihren Nachnamen dürfen wir nicht nennen, ebenso wenig Details zu ihrem Familienzuwachs erzählen. Schließlich läuft ein Gerichtsverfahren um die Zukunft des Kleinkindes, das das Jugendamt einer anderen Stadt Anfang des Jahres in Obhut nahm. Weit weg von zuhause ist es nun in Witten sicher untergebracht. Solange, bis das Urteil gefallen ist.

Aus dem Ehepaar in Witten wurde quasi über Nacht eine Familie

Aus dem Ehepaar A. wurden quasi über Nacht eine Familie. An einem Freitagabend ging das Telefon mit der Anfrage, das Kleine aufzunehmen. „Man erfährt nur, ob Junge oder Mädchen, das Alter und die Herkunft“, erzählt Serdar. Die Wittener stimmten zu. „In erster Linie wollten wir ein Kind aus einer Notsituation holen und ihm Sicherheit geben.“ Eine Stunde später waren sie zu dritt.

Auch interessant

Theoretisch haben sich der 30- und die 29-Jährige an diese Situation schon gewöhnt. Vor anderthalb Jahren haben sie sich als „Bereitschaftspflegeeltern“ registrieren lassen. „Wir wollen auch eigene Kinder haben. Aber das hindert uns ja nicht daran, anderen Kindern ein schönes Zuhause zu bieten“, finden sie. Über einen Erziehungshilfeverein wurden sie erst geprüft, beraten und in Wochenendseminaren geschult. Sie haben ein Kinderzimmer eingerichtet und sind ihrer Arbeit nachgegangen. Und sie haben gewartet. Bis das Telefon klingelte.

Alltag komplett verändert

Über Nacht hat sich ihr Alltag komplett geändert. Gut ist: Serdar arbeitet wegen der Corona-Pandemie zurzeit im Homeoffice und kann sich die Zeit frei einteilen. Seine Frau ist bei einem Orthopäden tätig. Sie hat abwechselnd lange und kurze Arbeitstage. Ein Elternteil ist immer da. Denn: Das Kindchen, noch im Windelalter, braucht viel Zuneigung. Entgegen aller Befürchtungen ist es pflegeleichter als gedacht. Lässt sich ohne Aufstand ins Bett bringen, schläft gut und räumt zum Beispiel stets seine Tasche mit „den 100 liebsten Spielzeugautos“ wieder ein. Nur die ersten beiden Nächte waren mit Ängsten und Tränen verbunden.

+++Alle Entwicklungen rund um Corona in Witten in unserem lokalen Newsblog+++

Für Serdar und Rabia ist das neue Familienleben vor allem: schön. „Zu sehen, wie das Kind sich wohlfühlt, wie es uns anlächelt und mit uns spielen will, ist toll.“ Beim Rest ihrer großen, bunten, multikulturellen Großfamilie ist das Kleine der Star. „Sehr geliebt und sehr gefragt.“

Kind wird Familie irgendwann verlassen

Und trotzdem: Alle wissen, dass das Pflegekind irgendwann – sei es in einigen Wochen oder in einem Jahr – die Wittener wieder verlassen wird. Je nach Gerichtsentscheid kommt es zu seiner Familie zurück oder wird in eine dauerhafte Pflegestelle vermittelt. „Das wird tatsächlich ein ganz schwieriger Akt. Man muss sich einfach sagen, dass wir dem Kind eine Zeit lang ein schönes Zuhause bieten konnten“, sagt Serdar.

Andere Eltern sollten sich auch trauen

Die Vorgeschichte ihres Kleinen kennen die A.s inzwischen. Sie werden von der Erziehungshilfe betreut und sind auch bei den wöchentlichen Treffen dabei, wo ihr Pflegekind Zeit mit seinen Eltern verbringen darf. Was fühlt man da, man weiß doch um das Unrecht, das dem Pflegekind zugefügt wurde? „Man muss die andere Eltern respektieren, auch wenn es einem schwerfällt. Die Gründe für eine Überforderung sind ja auch oft einfach tragisch“, so der 30-Jährige. Sie möchten andere Wittener Eltern überzeugen, sich ebenfalls als Bereitschaftspflegeeltern anzumelden. „Wir würden jederzeit wieder ein Pflegekind aufnehmen.“