Witten. Sie schießen wie Pilze aus dem Boden und jetzt gibt es sogar eine Neueröffnung in der Wittener Einkaufsmeile. Warum breiten sich Kioske so aus?
Sie heißen „Rose“-Kiosk, City-Kiosk“, „A & S“ oder „Wiesener Kiosk“ und ähneln sich stark. Die schrille Außenwerbung ist oft nicht zu übersehen, das Innenleben kommt wohl geordnet daher: mit Kühlschränken voller Getränke, Zigaretten im Regal hinterm Tresen und den vielen Spirituosen oft weiter oben im Sortiment. Geöffnet ist fast immer und die Betreiber haben oft einen Migrationshintergrund. Kioske sind die neue Ich-AG und sie breiten sich immer stärker aus, gerade in der Wittener Innenstadt. Wir haben mehrere besucht und gestaunt, welche interessanten Geschichten sich dahinter verbergen.
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Fangen wir doch mit einer Neueröffnung an. Bis vor kurzem hingen hier draußen noch rote Luftballons. Passend zum leuchtend roten Schaufenster. In weißer Schrift ist darauf das Angebot zu lesen: „Aufladekarten, Cafe Togo, Süßwaren,Tabak, Lebensmittel, Zeitschriften.“ VIP + heißt der neue Kiosk am Anfang der unteren Bahnhofstraße.
Drinnen treffen wir Samar AshadBek, die eine dunkle Fleecejacke mit der Aufschrift „Geschäftsführerin“ trägt. Die 40-Jährige wohnt gleich ein paar Häuser weiter mit ihrer Familie. Sie steht nur morgens hinterm Verkaufstresen. Mittags kocht sie für ihre vier Kinder. Für Samar, die in Syrien Biologielehrerin war, ist der Kiosk ihres „sehr netten“ Chefs eine Chance.
Der neu eröffnete Kiosk in Witten als Chance
Sie hofft, dass aus dem Minijob mehr wird, sie will arbeiten, eines Tages möchte sie auch noch eine andere Ausbildung machen. „Ich hoffe, dass wir irgendwann ohne Jobcenter auskommen“, sagt die Frau, die 2019 nach Witten gekommen ist. Vorher haben sie in Halle an der Saale gelebt, die ersten Jahre nach der Flucht aus Syrien 2015. „Wir hatten keine Arbeit“, erinnert sich Samar an die Zeit im Osten. So kam ihnen die Idee, einen Kiosk zu eröffnen. An Angeboten fehlte es nicht, „wir hatten zehn gefunden“. „Doch wenn die Leute gehört haben, dass wir Ausländer sind, war nichts mehr mit Kiosk.“
In Witten wurden sie dann fündig. Ihr Mann, der unter starkem Rheuma leidet, betreibt den „A & S“-Kiosk, einige hundert Meter weiter, ebenfalls auf der unteren Bahnhofstraße. Für seine Frau, die Lehrerin, mag der neu eröffnete „VIP +“-Kiosk nur eine Zwischenstation sein. Aber die Arbeit bedeutet ihr viel. Es ist ihre Rückkehr ins Berufsleben. Samar hat ihr Sprachdiplom „B1“ mit „sehr gut“ bestanden.
An diesem Vormittag ist es sehr ruhig in dem Ladenlokal nahe dem „City-Treff“. Samar aus Hasaka hofft, dass es mit der Zeit besser wird. Gerade ist ihre Bekannte Mussa (40) auf einen Sprung vorbeigekommen. Sie würde ebenfalls gerne arbeiten. Es läuft Musik aus der fernen Heimat. Samar singt leise mit.
Ortswechsel. Wir betreten den „City-Kiosk“ in der Steinstraße. Auch dort bedient ein ehemaliger Flüchtling aus Syrien, es ist der Besitzer, der seinen Namen nicht nennen mag. „Schreiben Sie H.D.“ Der Schwager hat einen Kiosk in Stockum, so entstand die Idee fürs Wiesenviertel. H.D. hätte das erste Jahr vermutlich nicht durchgehalten, hätte er nicht noch einen Vollzeit-Job bei Pilkington. „Ein Job reicht nicht“, sagt der junge Mann, der Frau und Kind hat. „Alles ist ja teurer geworden.“ Morgens verkauft er Malboros, danach geht’s zur Spätschicht ans Band. Sein Kiosk ist übrigens auch DHL-Shop, was öfter der Fall ist. Es bringt einen kleinen Zusatzverdienst und soll für mehr Kundschaft sorgen.
Kioske können ein Weg aus der Arbeitslosigkeit und dem Bezug von Bürgergeld sein, sind oft aber auch ein Risiko, zumal es immer mehr davon gibt. Zeynep Özsoy, die mit ihrem Mann seit langem den „Kiosk am Ossietzkyplatz“ betreibt, sieht die Entwicklung kritisch. „Jeder, der Lust und Laune hat, kriegt ein Gewerbe, macht einen Kiosk auf und nach drei Monaten ist wieder Schluss.“ Einen solchen Leerstand gibt es aktuell an der Oberstraße/Ecke Obergasse.
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Der Mann von Zeynep Özsoy hatte damals seinen Job beim Automobilzulieferer HP Pelzer verloren. Um sich die Arbeit in dem Kiosk an der Breite Straße teilen zu können, gab auch seine Frau ihre gute Anstellung als Verkäuferin auf. „Ich war bei Haus- und Elektrogeräte Hoffmann in Bommern.“ Gerne denkt sie an diese Zeit zurück – und scheint es fast ein wenig zu bereuen.
Doch sie haben es geschafft, den roten Backstein-Kiosk – eines der wenigen noch vorhandenen Originalbüdchen in Witten – erfolgreich weiterzuführen. An diesem Mittag geht es hier zu wie im Taubenschlag. Die Kinder von den umliegenden Schulen holen sich Süßes, ein Busfahrer Zigaretten und ein Rentner mit Hut drei Flaschen Ritterpils.
Zeynep Özsoy bedient sie alle durch das schmale Fenster mit dem weißen Holzrahmen, ein Kultkiosk wie aus einem Bildband übers Ruhrgebiet. Ein Türke holt sich seine Zeitung und Özsoy kann sich fließend mit ihm in ihrer Heimatsprache unterhalten. Sie selbst ist in der Kesselstraße aufgewachsen, im Schatten des Weichenwerks, und kannte die Bude schon als Kind. „Ich habe mir hier auch meine Bömsken gekauft.“
Einen Kiosk zu führen, sei nicht jedermanns Sache, sagt Zeynep Özsoy. Da sind die langen Arbeitszeiten, von morgens acht bis abends um zehn, in der Innenstadt teilweise bis Mitternacht und länger. „Weihnachten, Silvester, wir sind immer da“, sagt die Mutter von zwei fast erwachsenen Söhnen. Aus dem schmalen, 15 m² kleinen Verkaufsraum kommt warme Luft, „ich hab’ mir die Heizung angemacht“.
Gerade guckt Sabine Stadler (51) vorbei, die ihrem Viertel ebenfalls treu geblieben ist. „Wir haben früher draußen auf dem Platz gespielt“, erinnert sie sich an ihre Kindheit. „Wenn Geburtstag war, gab’s 50 Pfennige“ – die gleich in saure Gurken und Lakritzschnecken investiert wurden. Heute darf’s auch mal ein Fläschen Prosecco sein, wenn am Wochenende die Geschäfte schon geschlossen sind.
An sieben Tagen in der Woche geöffnet
Natürlich sind die an sieben Tagen geöffneten Kioske meist teurer als Kaufland, Aldi, Netto, Penny, Edeka, Rewe oder Lidl, eine kleine Flasche Cola kostet hier zwei Euro, eine Tüte Chips 2,70. „Sonst kommen wir nicht über die Runden“, sagt Özsoy. „Trotzdem müssen die Preise stimmen.“ Ach ja, Lebensmittel hat sie auch, Mehl, Eier und sogar Hundefutter.
Zweimal wurde sie am Anfang überfallen, inzwischen ist der Kiosk gut geschützt. Wie lange sie das noch machen will, fragen wir die 44-Jährige zum Abschied. „So lange es geht.“ Immerhin kann sie inzwischen sonntags etwas länger schlafen. Dann öffnet sie erst um zehn. Krank machen geht gar nicht, Urlaub nur in den Sommerferien.
Die Söhne treten nicht in die Fußstapfen ihrer Eltern
Ihre zwei Söhne werden nicht in die Fußstapfen der Eltern treten. Der 16-Jährige macht Abi, der 19-Jährige lernt Elektriker. „Wir mussten uns in der Familie immer teilen, Drei waren zuhause, einer im Kiosk“, erinnert sich Zeynep Özsoy an die Zeit, als die Kinder noch kleiner waren. Auf die Idee mit der Bude sind sie überhaupt erst gekommen, nachdem sie mal für einen Freund am Crengeldanz eingesprungen waren.
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Vor 15 Jahren bot sich ihnen die Gelegenheit, den Kiosk am Ossietzkyplatz zu übernehmen. Ein Büdchen unter Denkmalschutz. Von innen voll gestopft mit der großen Eistruhe, Flaschen, Knabberzeug und Süßwaren, von hinten voll gesprüht mit Graffiti. Aber nicht wegzudenken im Viertel. Da kommen schon wieder die nächsten Kinder. Zeynep Özsoy greift zur Bonbonschaufel und füllt eine gemischte Tüte. Nicht für 50 Pfennige, sondern für zwei Euro.
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