Witten. Die Glasindustrie ist besonders von Gas abhängig. Auch bei Pilkington in Witten fürchtet man einen Lieferstopp. Dabei läuft die Produktion gut.
Angesichts der sich zuspitzenden Energiekrise rückt eine Branche besonders in den Blick: Die Glasindustrie, die bei ihrer energieintensiven Rund-um-die-Uhr-Produktion komplett von Erdgas abhängig ist. Auch beim Wittener Pilkington-Werk schaut man sorgenvoll in die Zukunft. Allerdings drücken die Sorgen etwas weniger als an anderen Standorten des weltweit agierenden Unternehmens.
Und so traten am Mittwochmorgen sechs neue Azubis hoffnungsvoll ihre berufliche Zukunft bei der „Pilkington Automotive GmbH“ an: Künftige Industriekaufleute, Elektroniker für Betriebstechnik, Mechatroniker und Maschinen- und Anlagenführer. „Wir hätten gerne noch mehr ausgebildet, haben aber keine geeigneten Kandidaten gefunden“, sagt Betriebsrat Volkan Boruk. Eine kaufmännische Stelle könne noch kurzfristig besetzt werden. Den Bewerbermangel könne er seit zwei, drei Jahren feststellen. An ihren Nachwuchs ist das Unternehmen über verschiedene Wege gekommen. Abiturient Serhat (19) folgt den Spuren seines Vaters. Sophie (18) wurde auf einen Instagram-Post aufmerksam.
Windschutzscheiben für Luxuswagen aus Witten
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Die NSG Group, einer der weltweit führenden Anbieter von Glas und Verglasungssystemen für den Architektur- oder Autobereich, hat 2006 den Glaslieferanten Pilkington übernommen – darunter das Wittener Werk, das 1825 als Müllensiefen-Glasfabrik gegründet wurde. „In unserem Unternehmen ist Witten der Standort mit der längsten Glastradition“, sagt Sprecherin Birgit Kernebeck. 26.000 Mitarbeiter beschäftigt die Pilkington Holding weltweit, darunter nur 2600 in Deutschland, unter anderem in Gladbeck, Gelsenkirchen und eben Witten. Am Crengeldanz werden ausschließlich Fahrzeugscheiben produziert. In vielen Pkw sieht man das Pilkington-Logo an Front-, Heck-, Seitenscheiben oder auch im gläsernen Schiebedach. Aus Witten stammen allerdings nur die Scheiben der Oberklassewagen, etwa Porsche, BMW, Mercedes oder Audi.
Kontinuierliche Versorgung mit Erdgas nötig
Warum ist die Glasindustrie auf eine kontinuierliche Versorgung mit Erdgas angewiesen? Das Glasgemenge, bestehend aus den Rohstoffen Quarzsand, Kalk, Dolomit, Soda, Sulfat und recycelten Scherben, wird in großen Schmelzwannen von erdgasbefeuerten Brennern auf 1.600 °C erhitzt und zu Glas geschmolzen. Die Glasproduktion läuft ununterbrochen, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
Eine Glaswanne kann unter normalen Umständen bis zu 20 Jahre lang kontinuierlich betrieben werden. Ein Abstellen der Befeuerung ist nicht möglich, da dies eine vollständige und irreparable Zerstörung der feuerfesten Materialien und ein Erstarren des flüssigen Glases im Inneren der Schmelzwanne zur Folge hätte. Folglich: Ohne Versorgungssicherheit bei Energien ist eine Glaserzeugung nicht möglich.
Diese Spezialisierung auf Premiumgläser sei auch das Glück, dass das Wittener Werk glimpflich durch die letzten Krisen gekommen ist. Schwierigkeiten bei der Lieferung der Halbleiter oder Corona konnten sie am Crengeldanz mit „Flexibilität und Kurzarbeit“ auffangen, erklärt Betriebsleiter Fabian Wirtz: „Bei Lieferschwierigkeiten lassen die Hersteller zuerst die höherklassigen Fahrzeuge bauen, denn dabei ist die Marge höher.“ Eine Windschutzscheibe wie er sie an diesem Tag den neuen Azubis präsentiert, ist ein hochtechnisches Konstrukt: aus Akustikglas, das den Geräuschpegel reduziert, oder fähig ist für „Virtual Reality“-Anwendungen.
Beim Gasstopp würde die Produktion stillstehen
Trotzdem: die immens gestiegenen Produktionskosten merkt man auch in Witten. Die Energie für die Bearbeitung der Glas-Rohlinge stammt aus dem firmeneigenen Blockheizkraftwerk, außerdem wird ein Kesselhaus zur Dampferzeugung mit Gas betrieben. „Sollte es einen Gasstopp in Deutschland geben, würde auch unsere Produktion stillstehen“, sagt Fabian Wirtz. Denn die in Witten verwendeten Glas-Rohlinge werden in Gladbeck gegossen, in Öfen, die mit Erdgas befeuert werden. Zwar könne man einige Rohlinge woanders einkaufen. Auch testet die NSG Group den Einsatz von Wasserstoff statt Gas. Aber noch sei das nur eine Perspektive für die Zukunft.