Witten. Ibrahim Alothman floh aus Syrien, verliebte sich in die Enkelin Norbert Blüms und studiert Medizin in Witten. Das ist seine spannende Geschichte.

Ibrahim Alothman und seine Familie breiteten im Frühjahr 2013 im syrischen Rakka am Ufer des Euphrat eine Picknick-Decke aus und tranken Tee. Das Rauschen des Flusses und das Zwitschern von Vögeln erfüllten die Luft. Im Juni 2023 sitzt Ibrahim Alothman im Garten der Uni Witten-Herdecke, trinkt Limo aus dem Automaten und im Hintergrund quaken die Frösche. So viel ist in diesen zehn Jahren zwischen Rakka und Witten passiert! Der 27-Jährige erzählt seine Geschichte von Angst und Leid, aber auch von Glück und Hoffnung. Und eine Nebenrolle spielt darin der Politiker Norbert Blüm.

„Wir haben oft abends am Euphrat gesessen und gepicknickt“, blickt Ibrahim Alothman zurück. Damals hatte er seinen Schulabschluss gemacht und eine Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen. Rakka war zu dem Zeitpunkt eine Stadt mit knapp 300.000 Einwohnern, funktionierendem Schul- und Gesundheitssystem und bekannt für sein Literatur- und Theaterfestival. Die Stadt war unter Kontrolle des Assad-Regimes, ein normales Leben war trotzdem möglich.

Leben änderte sich von heute auf morgen

Dies änderte sich im März 2013. Mit dem arabischen Frühling entstanden „Chaos und bürgerkriegsähnliche Zustände. Das alltägliche Leben kam fast zum Erliegen“, so Alothman. Im Februar 2014 übernahm der IS die Kontrolle über Rakka und setzte seine strengen Interpretationen des Islams durch. Das Rauchen wurde verboten, Frauen durften nur verschleiert und in Begleitung ihres Mannes auf die Straße. „Man lebte in ständiger Angst und ging so wenig wie nötig raus“, beschreibt der heute 27-jährige die Situation. Die berüchtigte Geheimpolizei war allgegenwärtig und ahndete angebliche Vergehen sofort.

Bei Kämpfen 2017 wurden viele Straßenzüge in Ibrahims Heimatstadt Rakka (Syrien) völlig zerstört.
Bei Kämpfen 2017 wurden viele Straßenzüge in Ibrahims Heimatstadt Rakka (Syrien) völlig zerstört. © picture alliance / Morukc Umnaber/dpapicture alliance / Morukc Umnabe | Morukc Umnaber

Eines Tages wollte Ibrahim auf dem Markt Einkäufe erledigen, als er Zeuge einer Urteilsvollstreckung wurde. „Ich konnte nicht glauben, dass das wirklich passierte!“ Noch heute merkt man dem jungen Mann sein Entsetzen darüber an, dass vor den Augen von hunderten Passanten ein Mann enthauptet wurde.

Vom IS gesucht – Eltern ermöglichten Flucht

Seinen Job im Krankenhaus hatten er und seine Kollegen in dem Chaos längst verloren. Trotzdem arbeitete er dort freiwillig: „Wenn Rakka von Assads Truppen bombardiert wurde, setzte ich mich auf mein Motorrad und half in der Notaufnahme.“ Erst als der IS ihn im Krankenhaus anstellen wollte, wurde es für ihn bedrohlich. „Mein Vater hatte Angst, dass man über mich bestimmt, mich in einer anderen Stadt oder an der Front einsetzt.“

Nachdem er sich den Anweisungen des IS widersetzt hatte und mehrere Tage nicht mehr ins Krankenhaus gefahren war, wurde er von den Islamisten gesucht. Gemeinsam mit seinem besten Freund beschloss er, seine Zukunft in Europa zu suchen. Ibrahims Mutter verkaufte all ihren Schmuck, um ihrem Sohn die Flucht zu ermöglichen.

Griechische Insel Lesbos per Schlauchboot erreicht

Nur zwei Tage später sollte es losgehen. In der Nacht vor der geplanten Flucht erfuhr er von seinem Freund, dass dieser in Rakka bleiben würde, da seine Mutter ihn nicht gehen ließe. Trotzdem verabschiedete sich Ibrahim im August 2015 von seiner Familie und machte sich alleine auf den Weg. Von einem Schlepper wurde er in einem Minivan aus dem vom IS kontrollierten Gebiet gebracht. Seine Flucht endete nach einigen Tagen im türkischen Izmir, wo er bei einem Bekannten Unterschlupf fand.

Nach vier missglückten Versuchen, die griechische Insel Lesbos per Schlauchboot zu erreichen, landete er schließlich in der EU. Zu Fuß und per Bus schlug er sich durch bis zur kroatisch-ungarischen Grenze. Dort ging es erstmal nicht weiter, bis Bundeskanzlerin Angela Merkel einschritt. Der Rest ist Zeitgeschichte.

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Die ersten Monate in Deutschland verbrachte er in einem Flüchtlingslager in der Nähe von München. Über den Umweg Heidelberg landete er schließlich in Freiburg, wo er in einem Krankenhaus ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvierte und anschließend eine Ausbildung zum OP-Pfleger abschloss.

In Freiburg lernte er an einer Bushaltestelle eine Studentin kennen, verliebte sich in sie und lebte eine Zeit mit ihr zusammen. Dass die junge Frau einen berühmten Großvater hatte, wusste er nicht. Und selbst wenn, hätte er mit dem Namen Norbert Blüm nichts anfangen können. Das änderte sich, als Ibrahim ein Vorsemester an der Uni Köln absolvieren konnte und in dieser Zeit bei dem inzwischen verstorbenen einstigen Arbeitsminister und dessen Frau in Bonn wohnte. „Norbert Blüm ist bis heute ein Vorbild für mich und ich habe mir oft Rat bei ihm geholt.“

Wiedersehen in Mekka?

Deutsche Staatsbürgerschaft

Neben dem Studium engagiert Ibrahim Alothman sich im Islamischen Kulturverein. Er möchte Jugendlichen vermitteln, welche Möglichkeiten Deutschland bietet. In Deutschland habe er das freie Denken gelernt und den Wert von Bildung erkannt. Dies habe ihm gezeigt, wie wichtig Toleranz und Akzeptanz seien.

Anfang Mai bekam er im Rahmen des Einbürgerungsempfangs von Bürgermeister Lars König die so genannte Schmuckurkunde überreicht: Er hat nun die deutsche Staatsbürgerschaft.

Nun also Witten. Seit einem Jahr studiert er hier Medizin, mit dem Ziel, Chirurg zu werden. Nach dem Studium möchte er sich im globalen Süden einzusetzen, z. B. bei Ärzte ohne Grenzen. Im nächsten Jahr steht erst sein Physikum an, danach will er sich einen großen Wunsch erfüllen. „Ich spare für eine Reise nach Mekka. Dorthin dürfen meine Eltern auch ausreisen, so dass wir uns dort treffen könnten.“ Seine Eltern hat er nun seit acht Jahren nicht gesehen. Sie halten zwar Kontakt über das Smartphone, „aber ich vermisse meine Familie sehr“.

Wie sieht er die Zukunft Syriens? „Ich habe wenig Hoffnung, dass es besser wird“, sagt Ibrahim pessimistisch. Würde er denn rückblickend alles noch mal so machen? „Weiß ich nicht. Bestimmt.“ Er möchte nach vorne gucken, seine Zukunft planen. Er habe in den letzten Jahren gelernt, dass es sich lohnt, für seine Träume zu kämpfen. „Ich wollte nie nach Europa, ich habe nie geglaubt, dass ich Medizin studiere und ich habe nie daran gedacht, Deutscher zu werden.“ Alles drei ist längst Realität geworden.