Witten. Hassan ist in acht Kitas angemeldet und hat keinen Platz. Ulrike Hemmermann hilft deshalb bei der Betreuung. Sie ist sauer auf die Stadt Witten.

Rund 500 Kita-Plätze fehlen derzeit in Witten. Auch die Eltern des kleinen Hassan warten vergeblich auf eine Zusage. Der Junge aus Annen wird im Oktober schon vier und hätte eigentlich im vergangenen Jahr in den Kindergarten kommen sollen.

Dass es nicht klappt, ärgert auch Ulrike Hemmermann (71). Die pensionierte Förderschullehrerin kümmert sich als Freundin der aus Syrien stammenden Familie mehrmals pro Woche um den Kleinen. Sie hatte schon während der Flüchtlingswelle zwei junge Syrer unterstützt, die nach Witten geflohen waren. Beide seien ihr ans Herz gewachsen. Als der Ältere der beiden dann selbst Nachwuchs bekam, erfuhr Ulrike Hemmermann hautnah, wie schwer es ist, einen Kita-Platz zu ergattern.

Der junge Wittener nimmt am Brückenprojekt teil

Der Vater habe Hassan gleich nach seiner Geburt in drei Kitas angemeldet und gewartet. „Nichts tat sich“, sagt die Bommeranerin. 100 Kinder hätten auf der Warteliste gestanden. Also versuchte es die Familie ein Jahr später erneut. Inzwischen sei der Junge in acht Kitas angemeldet. Genützt hat das bisher nichts. Sein Fall ist kein „dringlicher“, da nicht beide Eltern berufstätig sind. Der Vater arbeite zwar als Bürokaufmann. Doch die Mutter sei zu Hause. Vor drei Monaten hat Hassan ein Schwesterchen bekommen.

Immerhin kann Hassan beim DRK am „Brückenprojekt“ in Annen teilnehmen, das für Kinder mit Migrationshintergrund angeboten wird. „Das ist besser als nichts“, sagt Ulrike Hemmermann. Doch sie vermisse ein pädagogisches Konzept. „Da wird mal gebastelt und gespielt und Hassan lernt, ohne Mama in der Gruppe zu sein.“ Allerdings sei dies nicht zu vergleichen mit dem Bildungsauftrag einer Kita, die Kinder altersgemäß auf ihrem Weg bis zur Schule begleitet.

Wittenerin hat ihr Gäste- zum Kinderzimmer umfunktioniert

Also entschied Ulrike Hemmermann kurzerhand, den kleinen Jungen selbst zu fördern. Während Corona war das kaum möglich. Doch seit November holt sie ihn drei Mal pro Woche mittags ab und hat ihr Gäste- zum Kinderzimmer umfunktioniert.

„Wir lesen Bilderbücher, malen und kochen oder backen zusammen, gehen in die Stadtbibliothek, zum Sport in die Jahnhalle, auf Spielplätze oder fahren mit der Fähre über die Ruhr.“ Auf ihrem Handy sind etliche Fotos von Ausflügen gespeichert. Der kleine Wirbelwind mit den dunklen Locken hält „Ullika“ – wie er sie nennt – ordentlich auf Trab.

„Er muss ja Deutsch können, wenn er in die Schule kommt“

Dringlicher Bedarf

Die Stadt unterscheidet bei der Anmeldung für einen Kita-Platz zwischen Nachfragen mit nachgewiesenem dringlichem Bedarf (beide Eltern berufstätig) und einem grundsätzlich angemeldeten Bedarf. Wer keinen Platz erhält, kann sich auf Wartelisten setzen lassen. „Parallel dazu wird versucht, über die Kindertagespflege den Bedarf abzudecken“, so Heiko Müller vom Jugendamt. Nach wie vor seien rund 500 Kinder unversorgt, davon knapp 70 mit dringlichem Bedarf.

Für Kinder mit Migrationshintergrund, die keinen Platz erhalten, bieten anerkannte Träger der freien Jugendhilfe sogenannte „Brückenprojekte“ an, in denen diese Kinder speziell gefördert werden. Durch eine Aufstockung von Fördermitteln im letzten Jahr können aktuell 77 Kinder betreut werden.

„Aber er kann auch schon ganz schön Deutsch“, freut sich die ehemalige Lehrerin, die inzwischen etliche Bücher zur Sprachentwicklung gelesen hat, um sich auf den neuesten Stand zu bringen. „Das muss er ja können, wenn er in die Schule kommt.“ Die Familie spreche zu Hause Arabisch. „Das ist auch richtig“, findet die Wittenerin. „Emotionen kann man besser in der Muttersprache ausdrücken.“

Ulrike Hemmerman ist wütend darüber, wie die Stadt mit dem Mangel an Kita-Plätzen umgeht. Da zähle nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, so ihr Vorwurf. Denn wenn berufstätige Eltern ihr Recht auf einen Kita-Platz einklagen, aber trotzdem keinen bekommen, müsse die Stadt für den Verdienstausfall zahlen. „Nicht die Kinder stehen hier im Fokus, sondern die Erwachsenen.“

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Natürlich könne die Stadt keine Kita-Plätze aus dem Ärmel schütteln. „Doch warum sind dann zwei Angebote abgelehnt worden?“ Die 71-Jährige verweist auf die Waldorf-Kita in der Bahnhofstraße und das Projekt einer Herbederin, die das alte Kurhaus Vormholz zur Kita umbauen wollte.

Ulrike Hemmermann kümmert sich gerne um Hassan. „Das ist kein Ehrenamt, sondern ein Freundschaftsdienst, der meinem Leben Sinn gibt.“ Trotzdem bleibt sie dabei: „Ein richtiger Kita-Platz für ihn wäre schön.“ Und nicht nur für ihn. Denn, so ihre Frage an die Stadt: „Können wir es uns leisten, etliche Kinder nicht von Anfang an bestmöglich zu fördern, um ihnen den optimalen Start in der Grundschule zu ermöglichen?“