Witten. Die explodierenden Preise setzen gerade Geringverdienern und Beziehern kleinerer Renten zu. Wie kommen sie klar? Ortsbesuch in Witten-Herbede.
Schnitzel muss nicht sein, ein Strammer Max für 2,80 Euro tut’s auch. Beim „Talk im Pütt“, dem allmonatlichen Treffen von Mitgliedern des Sozialverbands VdK in Herbede, ist das Thema „Sparen“ längst angekommen. Die Preisexplosion setzt gerade den Menschen zu, die wenig verdienen oder nur eine kleine oder bestenfalls mittlere Rente haben.
Krebskranke Frau aus Witten bekommt noch Grundsicherung
Hanni Suttrop ist schwer krebskrank. Die 86-Jährige bezieht 370 Euro eigene Rente, 300 Euro Witwenrente und 241 Euro Grundsicherung. Letztere schießt der Staat zu, wenn das Geld vorne und hinten nicht reicht. Dann sind da noch 728 Euro Pflegegeld, „aber die gebe ich ja wieder voll ab“, sagt die Seniorin, der auch noch ihre Kinder unter die Arme greifen.
Hanni Suttrop beklagt sich nicht, wie es keiner von ihnen tut, die hier gemütlich zusammensitzen und gerade auf Fantasiereise gegangen sind. VdK-Vorsitzender Siegfried Boldt (69), an diesem Nachmittag der Hahn im Korb, hat mal wieder den Projektor angeworfen und Fotos von seinen Reisen gezeigt, diesmal nach Ungarn.
Für Hanni Suttrop, der unterm Strich um die 900 Euro für Miete, Essen und Leben bleiben, kocht Boldt, er isst auch immer mittags mit der älteren Dame. Boldt, ein Bär von einem Mann, der selbst an kühlen Herbsttagen noch barfuß Sandalen trägt, macht immer gleich was für zwei Tage. Gerade gab’s Gulasch, mit selbst gesammelten Pilzen.
„Ich bin mit dem Sparen groß geworden“, sagt der ehemalige „Ossi“, der mit 1700 Euro Rente noch ganz gut dasteht. „Dafür habe ich auch viele Jahre schwer gearbeitet.“ Die letzten 26 in der Ruhrtaler Gesenkschmiede. Als er aufhörte, hat er sein Cabrio verkauft und ist in eine kleinere Wohnung gezogen. Boldt: „Jetzt kann ich froh sein, dass ich noch ein paar Ersparnisse habe.“
VdK-Vorsitzender aus Witten: „Mit dem Sparen groß geworden“
Trotz der fünfprozentigen Rentenerhöhung im Juli – die Inflation, die Energiekrise, die gestiegenen Lebensmittelpreise haben das satte Plus längst aufgefressen. Viele Rentner seien durch den Anstieg auch erst steuerpflichtig geworden und hätten Freibeträge verloren, sagt Boldt. Manche zahlten am Ende sogar noch drauf.
Die Krise, sie trifft alle, aber manche eben besonders. „Die Bärbel sagt, sie müsste zum Amt, wenn sie keine Rücklagen hätte“, erzählt Boldt aus dem Vereinsleben. Doch „arm“ würde sich hier keiner nennen. Doch sie alle wissen, was es heißt, mit wenig auskommen zu müssen. „Ich bin Kriegskind. Ich bin mit Hunger unter beiden Armen geboren“, sag Ingrid Schneider, die sich selbst eine „lebende Rechenmaschine“ nennt.
Mindestens hundert Euro mehr Haushaltsgeld
Die 86-Jährige führt Haushaltsbuch. Sonst habe sie 400 Euro Haushaltsgeld gehabt, jetzt brauche sie mindestens 500. „Ich komm’ sonst einfach nicht mehr hin.“ Der Frisör geht extra. Alle zehn Wochen lässt sie für 80 Euro ihre Haare färben. „Das andere mach ich selbst.“
Zwei Stühle weiter sitzt Wilma Rakels, ebenfalls 86 Jahre alt, im blauen Pullover. „Ich krieg bei meinem Bruder was zu essen“, sagt die Frau, die ungefähr 1500 Euro Rente bezieht. Woran sie jetzt sparen würden, will der Reporter von den VdK-Mitgliedern wissen. „Das geht nur über Angebote im Supermarkt“, sagt Beate Plogmann, mit 55 Jahren heute das „Küken“ in der Runde. Sie hat ihre Mutter gepflegt und ist arbeitslos, hat aber zum Glück noch einen Mann, der verdient.
„Pflegende Angehörige sind total vergessen worden“, sagt VdK-Vorsitzender Siegfried Boldt. „Sie sind weder im ersten noch im zweiten oder dritten Entlastungspaket vorgesehen.“ Boldt, der ehemalige Betriebsrat, fordert längst einen bundesweiten „Sozialgipfel“. Die soziale Unsicherheit werde doch von Tag zu Tag immer mehr geschürt.
Eier, Butter, Fleisch, Milch – alles ist teurer geworden
„Die Eier sind so teuer geworden, auch die Butter“, sagt Hanni Suttrop. Fleisch ist längst zur Ausnahme auf den Tellern geworden. „Sonst kostete das Kilo Putenschnitzel 7,90, jetzt 12,90 Euro“, sagt Helga Bauer (78). „Fisch kann man sich eh nicht mehr leisten.“ Auch Brötchen seien längst „Luxus“. Für die haltbare Milch, die früher 69 Cent gekostet hätte, zahle man jetzt fast einen Euro, der Preis für Trockenmilch sei von 0,89 Euro auf 1,39 gestiegen, sagt Beate Plogmann. Und was bei den Heizkosten noch auf sie zukommt, wissen sie heute noch gar nicht genau. „Zuhause hole ich gleich die dicke Decke raus“, sagt die Mittfünfzigerin.
Es ist kurz nach sechs, die Reihen lichten sich allmählich „Am Pütt“, dem urigen Vereinslokal hoch oben an der Kirchstraße in Herbede. Helga Bauer verabschiedet sich mit einem Kuss von Hanni Suttrop. Siegfried Boldt ruft „Macht’s gut, Mädels“ und packt die Leinwand ein. Nur eins sei nicht teurer geworden, sagt er zum Abschied, als er draußen seinen Kombi vollpackt. „Das sind meine Bonbons.“ Die lutscht er schon seit 28 Jahren, als er mit dem Rauchen aufgehört hat.