Witten. Nach dem Fall der Mauer vor 30 Jahren haben viele DDR-Bürger ihr Glück in Witten gefunden. Es gibt schöne, aber auch schmerzliche Erinnerungen.
30 Jahre Mauerfall, 30 Jahre im Westen. Siegfried Boldt hat es nie bereut, „rübergemacht“ zu haben. Der Tag der Wiedervereinigung ist für den 66-Jährigen aber nicht nur ein Grund zur Freude. Im Gegenteil. „Der 3. Oktober 1989 war für mich die Hölle“, sagt der Wahl-Herbeder und gebürtige Mecklenburger.
Genscher hatte schon seine berühmte Rede vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag gehalten („Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise.“), als Siegfried Boldt zwei Tage später am 2. Oktober 1989 in Dresden seinen ersten Fluchtversuch aus der DDR unternahm. Er wollte den Tausenden folgen, die bereits über Prag in den Westen geflohen waren. Doch statt in der tschechischen Hauptstadt landete er mit vielen anderen für eine Nacht in einer kleinen überfüllten Zelle im sächsischen Pirna.. Er war an der Grenze geschnappt worden, als er zu Fuß aus dem Wald kam. „Plötzlich hatte ich eine Kalaschnikow im Rücken.“
Angst, wegen Republikflucht für lange Zeit im Stasiknast zu landen
Boldt, damals 36, hatte Angst, wegen Republikflucht für lange Zeit im Stasiknast zu verschwinden. „Das war Drama pur. Wir alle hatten von den Zuständen in den Stasigefängnissen gehört, von Folter und Pein“, sagt der ehemalige Agrotechniker. Doch es kam anders. Er musste unterschreiben, dass er nun auf seine offizielle Ausreise wartet, wurde entlassen und stand plötzlich wieder in seiner bereits leer geräumten Wohnung in Dresden. Dass einen Monat später die Mauer fallen sollte, konnte er da noch nicht ahnen – obwohl die Menschen schon längst auf die Straße gingen. Siegfried Boldt nahm an den Protesten der Bürgerrechtsbewegung in der DDR teil, er gehörte auch dem „Neuen Forum“ an.
Am 8. November 1989 setzte er sich schließlich in den Zug, um nach Prag zu fahren. „Ich bin aber gar nicht bis zur Botschaft gekommen. Am Bahnhof ging es gleich weiter nach Westdeutschland.“ Über Nacht fuhr er der Freiheit entgegen. Der Rest ist Geschichte. „Im Kofferradio im Zug hörte ich, die Mauer ist auf.“ Die Gefühle überwältigten ihn und die anderen Geflüchteten. „Wir heulten wie die Schlosshunde.“ Einmal im Westen, ging es schnell bergauf für Siegfried Boldt.
Schnell Arbeit in Witten gefunden, erst im Holzhandel, dann bei der Ruhrtaler Gesenkschmiede
Er fand Arbeit, erst beim Holzhandel Wischmann in Witten und wenig später bei der Ruhrtaler Gesenkschmiede, wo er 26 Jahre blieb und seit den Neunzigern Betriebsrat war. Er leitet seit 20 Jahren den Sozialverband VdK, wandert gerne und fährt Fahrrad. „Drüben“ im Osten hat der geschiedene Vater von drei Söhnen noch viel Verwandtschaft, vor allem seine Kinder und Enkel. Aber Witten, gerade Herbede, ist längst zur Heimat geworden. „Ich liebe die Stadt und das Ruhrgebiet.“
Auch Sophia Fischer fühlt sich hier nach mittlerweile fünf Jahren wohl, schließt aber für die Zukunft eine Rückkehr in ihre Heimatstadt Magdeburg nicht aus. Die Lehrerin an der Rudolf-Steiner-Schule hat eine ganz andere Geschichte. 25 Jahre jung, wurde sie erst nach der Wende geboren, 1994. Die DDR kennt sie nur aus den Erzählungen ihrer Familie. Wegen des Studiums am Institut für Waldorfpädagogik kam sie nach Witten, der Liebe wegen blieb sie.
Waldorf-Lehrerin aus Magdeburg kennt die DDR nur Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern
An ihre Kindheit und Jugend in Sachsen-Anhalt erinnert sich Sophia Fischer gerne. „Ich bin ganz behütet nach der Wende in Magdeburg aufgewachsen“, sagt die junge Frau. Ihrer Familie sei es in der DDR gut gegangen. Die Mutter Erzieherin, der Vater Polizist, niemand hat an Ausreise gedacht. „Klar, haben sie sich auch mal gefreut, wenn ein West-Paket mit einer Jeans kam. Aber meine Familie hat sich in der DDR wohlgefühlt“, sagt die Pädagogin. „Meine Mama hat sogar einen Fernseher gehabt.“
Nur bei ihrer Oma komme oft noch dieses „West-Ost“-Gefühl hoch. Sie war es auch, die die Enkelin fragte: „In Westen willste ziehen? Die reden doch da so komisch. Und jetzt auch noch ein Freund als Wessi...“ Sophia Fischer: „Sie hängt noch dran.“ Ihre Mutter war mit der älterer Schwester hochschwanger, als die Mauer fiel. „Keiner wollte sofort rüber“, sagt die Lehrerin, deren Familie in Magdeburg lebt. Deshalb Sophia Fischer eines Tages vielleicht zurückkehren. Sie gesteht: „Ich finde den Osten schon schöner.“
Sophia Fischer selbst sieht für sich kaum mehr einen Unterschied zwischen Ost und West. Faszinierend findet sie es, „dass alles schon so lange her ist“. Am Einheitstag werde sie aber schon an die Wende und den Mauerfall denken. Auch wenn sie erst fünf Jahre später zur Welt kam, sagt sie: „Wenn ich die Bilder von damals sehe, wie sich die Menschen gefreut haben, kriege ich Gänsehaut.“