Witten. Kürzlich ist der Armutsbericht für Deutschland veröffentlicht worden. Nach Recherchen der Redaktion sind mindestens 11.000 Wittener relativ arm.
Wann ist man eigentlich arm oder zumindest armutsgefährdet? Wenn man weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens monatlich zur Verfügung hat, so die Definition des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Die bundesweite Armutsschwelle für Alleinstehende betrug 2018 etwa 1035 Euro, für Paare mit zwei Kindern 2174 Euro. Nach den jüngsten Zahlen von Jobcenter und Sozialamt gelten mindestens 11.000 Menschen in Witten als „relativ arm“.
Die Zahlen sind zwar wie im ganzen Revier, wo jeder Fünfte als arm gilt, nicht gestiegen. Sie sind aber auch nicht so stark zurückgegangen, dass es für die Sozialverbände „einen Grunde zum Jubeln“ gäbe.
Wir haben zum Jahresende einmal wieder die „Tafel“ an der Herbeder Straße besucht. „Sind Sie arm?“, fragen wir Frank*, einen Mann Ende 40, der gerade zum Frühstücken gekommen ist. „Wenn ich hierhin komme, bin ich wohl arm“, sagt der langzeitarbeitslose Vater von vier erwachsenen Kindern. Wenn er seinen vier Enkeln etwas schenken wolle, müsse er den ganzen Monat bei der Tafel essen, um Geld zu sparen, sagt er.
Der Frühstücksraum bei der Wittener Tafel ist gut besucht
Der Frühstücksraum ist an diesem Morgen gut besucht, viele alleinstehende Männer jeden Alters sitzen an den Tischen. Nicht alle sind arm, das gehört zur Wahrheit dazu. Ein Rentner mit knapp 1300 Rente kommt nur vorbei, um Gesellschaft zu haben. Da ist aber auch der junge Mann, der seine Ausbildung abgebrochen hat und nun keinen Job mehr findet. Er lebt – wie viele Singles unter den Hartz-IV-Empfängern – von 424 Euro monatlich. Außerdem bezahlt das Jobcenter die Wohnung. Ab Januar wird der Satz auf 432 Euro erhöht.
9280 Menschen bezogen (Stand August) in diesem Jahr Hartz IV, darunter 2597 Kinder und Jugendliche. Seit 2017 (9908 Betroffene) sind die Zahlen rückgängig. 2018 waren es noch 9365 „Leistungsberechtigte“. Hinzu kommen die „nicht erwerbsfähigen“ Menschen, die auf das Sozialamt angewiesen sind. Auch hier gibt es leichte Rückgänge. 277 Menschen bezogen 2019 (Stand November) Hilfe zum Lebensunterhalt, im Vorjahr waren es 302.
1511 Wittener bekommen Grundsicherung im Alter
1511 Personen bekamen (Stand November) Grundsicherung im Alter. Diese Zahl hat sich gegenüber dem Vorjahr (1509) geringfügig erhöht. Hinzu kommen 4454 Fälle, in denen Wohngeld gezahlt wurde. Rechnet man also Hartz-IV-Empfänger und die Besucher des Sozialamtes zusammen, kommt man (ohne Wohngeldbezieher) auf rund 11.000 Menschen, die als relativ arm gelten, rund 10,7 Prozent der Wittener. Nicht mitgezählt sind etwa Berufstätige im Niedriglohnsektor oder ältere Menschen, die sich schämen, zum Amt zu gehen.
Bei der Tafel hat Leiter Jürgen Golnik (53) festgestellt, dass immer mehr Ältere morgens in der Schlange stehen. „Menschen, die nur 400 bis 600 Euro Rente im Monat haben, obwohl sie gearbeitet haben“, sagt der 53-Jährige. Es sei gut, dass nun auch die kämen, „die sich vorher nicht getraut haben“. Die Rentner (mit entsprechendem Rentenbescheid) gehören neben Hartz-IV-Empfängern (die ebenfalls einen Beleg brauchen) und Studenten mit Bafögbescheid zum „Kundenstamm“ der Tafel. Dieser umfasst aktuell 600 bis 800 Menschen. „Sind diese Menschen arm?“, fragen wir Golnik, der seit 13 Jahren mitmischt. „Schon, natürlich. Wer die Hilfe der Tafel in Anspruch nimmt, den würde ich als arm bezeichnen“, antwortet er.
Jobcenter-Chef des Ennepe-Ruhr-Kreises spricht von „relativer Armut“
Von „relativer Armut“ spricht Jobcenter-Chef Heiner Dürwald. „Hartz-IV-Empfänger würden unter diese Definition fallen“, sagt er. „Sie haben nicht genug Mittel, um ihre Grundbedürfnisse zu decken.“ Sobald ungeplante Ausgaben wie für einen kaputten Kühlschrank anfielen, müssten viele ein Darlehen beim Jobcenter aufnehmen. Dürwald: „Es ist ja lebensfremd, dass was angespart wird.“ Fazit des Jobcenter-Leiters im EN-Kreis: Mit 424 Euro lassen sich keine großen Sprünge machen. Aber wer sparsam sei, könne damit auskommen.
Gibt es mehr Armut als früher? Sozialamtsleiter Michael Gonas (47) verneint die Frage. „Es ist nicht schlimmer geworden“, sagt der Wittener, ohne etwas beschönigen zu wollen. So zahlt das Sozialamt anders als früher zum Beispiel vor den Feiertagen keine Weihnachtsbeihilfe mehr. Und auch die Wohngeldempfänger hätten ein relativ geringes Einkommen. Rechnet man sie zu den anderen 11.000 „armen“ Wittenern hinzu, kommt man bereits auf über 15.000 Menschen mit wenig Geld, rund 14,6 Prozent der Bevölkerung.
Da sind es oft schon die kleinen Dinge, die Freude machen. Im Flur der Tafel sucht Frank*, der Vater von vier Kindern, im Altkleiderstapel nach einer Hose – „für eine Freundin“.
*Name geändert