Mülheim. . Durch Wettgeschäfte von Ex-Kämmerer Gerd Bultmann mit der West LB verlor die Stadt Mülheim bis zum Jahr 2007 über sechs Millionen Euro. Jetzt drohen weitere Verluste in Millionenhöhe. Diese könnten noch bis 2026 die Stadt an der Ruhr finanziell stark belasten.
Tag 1 nach der Offenbarung des Kämmerers, auch die Stadt Mülheim stehe betroffen wie hilflos neuen millionenschweren Verlusten durch Wettgeschäfte mit der West LB gegenüber: Auch am Mittwoch war Uwe Bonan für ein ausführliches Gespräch über offene Fragen zum finanziellen Desaster mit Zins- und Währungswetten nicht zu haben. Zu viele Termine, hieß es. Er will sich in einer Woche gegenüber der WAZ um „Klarstellung“ bemühen. Eine Zwischenbilanz der Aufklärungsgesuche dieser Zeitung.
Klage oder nicht? Nachdem der Bundesgerichtshof im März der Klage eines Mittelständlers gegen die Deutsche Bank stattgegeben hatte und ihm wegen mangelhafter Beratung der Bank zu hoch spekulativen Derivatgeschäften einen Schadenersatz zugesprochen hatte, wurde die 2003 in Mülheim in Gang gesetzte Millionen-Pleite mit Derivaten plötzlich wieder Thema. 6,083 Mio Euro hatte die Stadt bis dato verzockt. War auch sie mangelhaft beraten worden? Das Rechtsamt versteckte sich hinter einem Gutachten aus eigener Feder: Nichts zu machen, der Tenor. Die WAZ beantragte Akteneinsicht, sie wurde ihr verwehrt.
Eine disbezügliche Klage am Verwaltungsgericht ist noch anhängig. Die Politik durfte in die Akten schauen – und vermisste Protokolle zu den Beratungsgesprächen mit den Banken. Hat sich die Verwaltung durch schludriges Protokollieren selbst um die Aussicht gebracht, die andere Städte in einer Schadenersatzklage sehen? Da wirkt es pikant, dass das Rechtsamt keine externe Prüfung des städtischen Verwaltungshandelns für nötig hielt. Die Politik setzte eben dies schlussendlich noch durch. Die Düsseldorfer Kanzlei Baum, Reiter & Collegen soll nun eine zweite Begutachtung vornehmen.
Der Fall Remscheid
Eben vorgenannte, auf Kapitalmarktrecht spezialisierte Kanzlei vertritt eine Klage der Stadt Remscheid gegen die West LB. Die Stadt im Bergischen hat laut Stadtdirektor Burkhard Mast-Weisz 2008 und 2009 über 20 Mio Euro durch Wetten mit der West LB verloren. Remscheid beklagt mangelhafte Beratung der Bank. Mast-Weisz zur WAZ: „Die realen Risiken, die Wahrscheinlichkeit, dass das Geschäft vor die Wand läuft, sind für die Stadt nicht nachvollziehbar gemacht worden.“
Die Wettgeschäfte seien der Stadt als „Befreiungsschlag aus dem Dilemma der Haushaltskrise“ angepriesen worden. „Das können wir mit Sicherheit anhand unserer Unterlagen deutlich machen. Wir wollen unser Geld zurück. Das ist unsere moralische Pflicht gegenüber den Bürgern.“ Remscheids Musterprozess begann im April am Düsseldorfer Landgericht. Fortsetzung im Januar.
Schrecken ohne Ende?
Am 31. Dezember 2007 bilanzierte Mülheim einen vorläufigen Verlust aus den von Ex-Kämmerer Gerd Bultmann und Co. eingegangenen Wettgeschäften von 6,083 Mio Euro. Damit ist der Spuk nicht zu Ende. Kämmerer Bonan hatte bei seinem Amtsantritt im April 2006 laufende Verträge mit der West LB „geerbt“, die ein Verlustrisiko von 16 Mio Euro in sich bargen. In Verhandlungen mit der Landesbank versuchte er schließlich, so glimpflich wie möglich aus der Nummer rauszukommen.
Unklar bleibt, wie riskant der Ausstieg selbst ist. Dass er risikobehaftet ist und wiederum Spekulationsgeschäfte beinhaltet, ist gestern klar geworden, als Bonan eingestand, dass eine Wette auf die Wertentwicklung des Schweizer Franken Teil des Ausstiegs ist. Der starke Franken lässt die Stadt erneut bluten: Weitere 1,385 Mio Euro Verlust stehen aktuell zu Buche. Und der Franken ist weiterhin stärker als die Wette der Stadt.
Unklar bleibt, welches Geschäft und welches Risiko daneben noch bestehen. Aus dem Protokoll einer nichtöffentlichen Sitzung des Finanzausschusses vom 21. Februar 2011, das Bonan am Dienstag wohl als Erinnerung noch eiligst an die Ratsfraktionen geschickt hat, ist die Rede von zwei aktiven Verträgen mit der West LB.
Allein West LB entscheidet
Und da wäre noch . . . ein weiteres Risiko, das zwischen 2016 und 2026 Unheil für die Stadtkasse bringen könnte. Als letzter Teil des Ausstiegsszenarios, das erfuhr die WAZ bei der Einsicht in einen Bericht der städtischen Rechnungsprüfer, ist ein sogenannter Festzinszahler-Swap möglich. Allein die West LB entscheidet, ob sie diese Wette in Gang setzt. Macht sie natürlich nur bei Erfolgsaussicht.
Zur Wette: Die Stadt zahlt auf 20 Mio Euro einen fixen Zinssatz. Im Gegenzug erhält sie von der West LB eine Verzinsung der 20 Mio Euro gemäß variablem Satz des Drei-Monats-Euribor. Dies ist ein Interbankenzins, der den durchschnittlichen Zinssatz abbildet, zu dem europäische Banken einander Euro-Anleihen gewähren. Abgerechnet wird vierteljährlich. Bedeutet: Liegt der Drei-Monats-Euribor unter dem vertraglichen Festzins, verliert die Stadt. Sie wettet folglich auf einen relativ hohen Interbankenzins.