Mülheim. Rund 6 Mio Euro Verlust hat die Stadt Mülheim mit Zinswetten gemacht. Das Risiko soll bekannt, aber ignoriert worden sein. Indes wurde die Deutsche Bank bereits wegen mangelnder Beratung eines Mittelständlers zu Schadensersatzzahlungen verurteilt.

Exakt 6,083 Millionen Euro Verlust hat die Stadt Mülheim mit hoch spekulativen Zinswetten gemacht. Jetzt, nach dem jüngsten Urteil des Bundesgerichtshofes, zeigt sich, dass das Millionen-Desaster in der Öffentlichkeit nie richtig aufgearbeitet worden ist.

Der 28. März 2006 war nicht nur ein Dienstag, sondern auch ein Dienst-Tag für Kämmerer Uwe Bonan, der ihm nach nicht einmal einmonatiger Amtszeit vor Augen geführt haben dürfte, welch schweres Erbe er da angetreten hat. Auch wenn am Ende des Tages „nur“ ein Verlust von 9000 Euro stand: Bonan musste spätestens jetzt erkennen, welche Risiken in den von Vorgänger Gerd Bultmann eingefädelten Geschäften mit hoch spekulativen Zinswetten (Swaps) steckte, die, nachdem Bultmann von der Politik geschasst worden war, zunächst vom Finanzmanagement der Stadt weiter betrieben worden waren.

Die Stadt zog nie die Notbremse

Düster die Prognose an diesem Dienst-Tag: Fortan drohten der Stadt noch acht weitere Monate allein mit diesem einen Swap weitere Miese. Tagtäglich 9000 Euro. Das wären in acht Monaten 2,3 Mio Euro. Verzockt, für Mülheims Bürger verloren.

Seit 2003 hatte sich die Stadt da schon in jenes „moderne“ Zinsmanagement verstrickt, das, allzu blauäugig betrachtet, Gewinne versprach – und damit Heil vor allem für chronisch klamme Kommunen. Geblendet vom Versprechen, ausgeblendet die enormen Risiken. Die Stadt befand sich an jenem Bonanschen Dienst-Tag längst im Teufelskreis verseuchter Verträge. War einer von ihnen in den Jahren zuvor aus dem Ruder gelaufen, drohte richtig Geld verbrannt zu werden. Doch zog die Stadt nie die Notbremse. Sie kaufte sich aus den Verträgen frei, indem sie neue zu noch ungünstigeren Konditionen abschloss.

Nach jenem Dienst-Tag kam der Mittwoch. Und Bonan flog der zweite Vertrag um die Ohren. Beide, auf einer Kreditsumme von 125 Mio Euro aufbauenden Zinstauschgeschäfte der Stadt mit der WestLB: gekippt, ein Fiasko drohte. Ab sofort musste Schadensbegrenzung vordringliche Mission sein. Summa summarum drohte die Stadt mit ihren beiden Zinswetten allein bis Ende November 2006 mehr als 6 Mio Euro zu verzocken.

Die Aufklärung schuldig geblieben

Wie und wann genau Kämmerer Bonan die Reißleine zog, müsste den Finanzausschuss am Montag interessieren. Vor allem, nachdem Alt-Kämmerer Gerd Bultmann ihm den Schwarzen Peter zugeschoben hat: „Warum erst in 2007, bei einem angelaufenen Defizit von 6,5 Mio Euro, gehandelt wurde“, schrieb er der WAZ, „weiß ich nicht.“ Eine Aufklärung über die Umstände und den Vollzug des Ausstiegs ist Bonan bisher schuldig geblieben, er hat die Vorwürfe seines Vorgängers lediglich mit „unerhört und dreist“ kommentiert.

So muss das Ende der unrühmlichen Mülheimer Zinswetten-Geschichte noch geschrieben werden. Ohnehin lohnt derweil ein Blick auf die Anfänge, auf das Jahr 2003.

Der Finanzausschuss des Rates fand am 13. Oktober 2003 zu einer – mindestens im Nachhinein betrachtet – denkwürdigen Sitzung im Sitzungsraum 124 des unrenovierten Rathauses zusammen. TOP 1: „Einsatz von Derivaten zur Minimierung der Zinsbelastung für Kredite“. Derivate, das sind Finanzprodukte, die etwa auf Basis von Krediten zusätzliche Spekulationsmöglichkeiten eröffnen. Eine Spielform sind: Swaps.

Die West LB zauberte reichlich Argumente auf die Leinwand

In jene Sitzung hatte Kämmerer Bultmann Vertreter der WestLB eingeladen, um den Politikern die „Palette derivater Produkte“ nahezubringen. „Nicht zu verkennen“, hieß es immerhin in Bultmanns Beschlussvorlage, „sind allerdings auch die den Derivaten immanenten Risiken.“

Weggewischt, dieser eine Zweifel. Auf exakt 27 Seiten Power-Point-Präsentation ließen die Banker ihre Informationen auf Mülheims Politiker wirken. Portfoliomanagement – Euribor – Zins-Swap – Optimierung des Chancen-/Risikoprofils – Steuerung der mittleren Zinsbindungsdauer – Chancen im Zinszyklus . . . Otto Normalbürger wäre schwindelig geworden. Und den ehrenamtlich tätigen Rats­politikern? Die Verkaufstruppe der WestLB zauberte reichlich Argumente auf die Leinwand: „Der historische Vergleich zeigt, hieß es, „dass moderne Finanzierungsstrategien im Vergleich zur klassischen Kommunalkreditfinanzierung erhebliches Einsparpotenzial bieten.“ Die letztgenannten drei Wörter: gefettet – erhebliches Einsparpotenzial bieten! Wer mag da widersprechen . . .? Die Banker schmissen mit Appetithäppchen um sich, versprachen etwa für einen 100-Mio-Kredit 250 000 Euro, die mit Swap-Geschäft zu sparen seien. Jährlich!

Wie beeindruckt die Mitglieder des Ausschusses dreingeblickt haben ob dieser süßen Trauben, die ihnen die WestLB da auf dem Silbertablett präsentierte, ist nicht übermittelt. Ebenso nicht, wie emsig sich Einzelne auf das vorbereitet hatten, was ihnen in nicht mal einer DIN/A4-Seite Vorlagentext vom Kämmerer abverlangt war: eine Zustimmung zu hoch spekulativen, komplexen Derivatgeschäften.

Zu brisant. Zu riskant.

Die anschließende Diskussion im öffentlichen Teil der Sitzung, so das Protokoll, hatte „insbesondere die Höhe der möglichen Einsparungen (...) und die Gebührenstruktur zum Gegenstand“. Ob und was der Ausschuss später unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutierte und hinterfragte, ist nicht übermittelt. Nur das Abstimmungsergebnis: Die Politik gab dem Kämmerer grünes Licht für derlei Geschäfte. Darunter weiter im Rat aktive Politiker von SPD, CDU und den Grünen.

Nur Dr. Margrit Toma-Dislich (CDU) hatte sich enthalten. Später darauf angesprochen, sagte die Philologin und Unternehmerin, sie habe, nachdem sie sich vorab von Börsenmanagern habe aufklären lassen, vor den Geschäften gewarnt. Zu brisant. Zu riskant. „Ich habe mir den Mund fusselig geredet, aber es wollte keiner darauf hören.“ Viel Gutgläubigkeit sei in der Politik im Spiel gewesen. Es lockten ja: satte Gewinne.

In der Präsentation der WestLB fehlte indes der sachdienliche Hinweis, dass die Stadt bei einer Zinswette zwar Geld gewinnen, aber das zigfache auch verbrennen kann. Und dass die WestLB selbstredend gar kein Interesse daran haben konnte, der Stadt für nichts und wieder nichts Geld hinterherzuwerfen. Erst wenn die Stadt ihre Wette verlöre, hätten die Experten der WestLB, aber auch der gesunde Menschenverstand sagen können, macht die Bank ihren Reibach. Ein Interessenkonflikt zwischen Geschäftspartnern – eigentlich nicht tragbar.

Keine Anhaltspunkte für eine nachweisbare Falschberatung

Fast nachvollziehbar, dass manch ein noch aktiver Kommunalpolitiker heute, da die WAZ die Geschichte aufwärmt, poltert: Warum alte Kamelle kauen? Es wird lieber gestreut, alles dazu sei gesagt, getan. Ist das denn so?

Das Jahr 2008 brachte dem Finanzausschuss eine weitere Sitzung der vertanen Chancen, Licht ins Dunkel zu bringen. Niemand stolperte über diesen doppeldeutigen Satz, der sich mitten in der Stellungnahme der Verwaltung zum Millionen-Desaster versteckte: „Es sind keine Anhaltspunkte für eine nachweisbare Falschberatung ersichtlich.“

Mussten sich nicht schon die Ratspolitiker, die 2003 bei der Präsentation der WestLB dabei waren, falsch beraten gefühlt haben? Was ist das eigentlich für ein Prüfbericht zu möglichen Haftungsansprüchen der Stadt, den das Rechtsamt erstellt hat? Sagt der vielleicht mehr als die zwei Sätze dazu in der Stellungnahme der Verwaltung?

Es gib um Millionenbeträge der Bürger

Der Prüfbericht ist der Politik nicht vorgelegt worden, die Politik wiederum hat dies hingenommen. Hätte sie die Vorlage eingefordert, hätte sie nachlesen können, a) dass das Rechtsamt der Auffassung war, dass Kämmerer Bultmann mit den vor volkswirtschaftlicher Kompetenz strotzenden Großbanken angeblich „auf Augenhöhe“, „von Kaufmann zu Kaufmann“ ein Geschäft geschlossen habe (bemerkenswert) und b) dass es eine interne Prüfung gegeben hatte, ob nicht gar Bultmann und die zwei Beamten in der Leitung des Finanzmanagements beamtenrechtlich zu belangen gewesen wären. Niemand hakte nach. Es ging aber doch um Millionenbeträge der Bürger.

Heute, nachdem der Bundesgerichtshof die Deutsche Bank wegen mangelhafter Beratung eines Mittelständlers bei Swap-Geschäften zu Schadenersatz verdonnert hat, wiegelt die Stadtspitze nur ab. Obwohl dem Urteil bundesweit Signalwirkung auch für Klagen von Kommunen zugesprochen wird, heißt es: nicht vergleichbarer Fall, keine Falschberatung, verjährt. Die 6,1 Mio Euro? Abgeschrieben! Dabei gibt es für jede einzelne Bewertung seitens der Stadt eine Gegenmeinung. Aus Fachkreisen.

Andere Kommunen, selbst peinlich berührt ob ihres hoch spekulativen Handelns, halten sich die Möglichkeit einer Klage offen, einige haben den Klageweg bereits beschritten. Was, wenn sie sich Schadenersatz holen? Und wenn dann wieder der Mülheimer Finanzausschuss tagt? Wird ein Teil von ihm wohl wieder schweigsam erdulden, was dem Bürger schwer fällt zu ertragen? Dass im Gegenzug Bäder schließen, Steuern und Gebühren steigen, kein Geld für Straßensanierungen da ist . . .

Wie die Zinswetten funktionieren

Ein Swap ist ein Zinstausch und leitet sich als Derivat (= Ableitung) von einem bestehenden Kreditgeschäft ab. Mitte Dezember 2004 schloss die Stadt, um aus vorherigen verlustreichen Derivatgeschäften auszusteigen, mit der WestLB Verträge über sogenannte Korridor-Swaps ab.

Zunächst vereinbarte die Stadt einen Vertrag mit einer Laufzeit von 22,5 Monaten, aufgeteilt in zwei Perioden. Für die erste Periode wettete sie mit der WestLB, dass sich der Tagessatz des 12-Monats-Euribor (ein Zinssatz für Euro-Termingelder im Interbankengeschäft) in der Zeit vom 15. Dezember 2004 bis zum 30. Oktober 2005 im Korridor von 2,2 und 2,9 % halten würde. Abgeleitet wurde diese Wette von einem Kreditvolumen in Höhe von 170 Mio Euro. Das Wettgeschäft hatte folgenden Inhalt: Die Stadt zahlte zusätzlich zu ihren Kreditzinsen einen fixen Zins von 4,94 % auf die 170 Mio Euro an die WestLB, im Gegenzug überwies die WestLB 5,84 %, wenn die Stadt im vorgegebenen Zinskorridor blieb. Wenn sie ihn verließ, abgerechnet wurde täglich, bekam die Stadt nichts. Bei besagtem Swap-Geschäft war das Verlustrisiko für die Stadt 5,5 Mal höher als ihre Gewinnmöglichkeit. An einem einzigen Tag, wo der Zinssatz den Swap-Korridor verließ, verlor die Stadt auf einen Schlag gut 23 000 Euro.

Verlustrisiko 33 Mal höher als die Gewinnchancen

Schon im Juni 2005 sah sich die Stadt gezwungen, die Geschäfte umzustrukturieren, weil die Verluste Überhand nahmen. Dies hatte seinen Preis: Die Korridore, die die WestLB der Stadt gewährte, wurden enger, die Laufzeit der Verträge länger und so das Risiko für eine treffsichere Zinsprognose höher. Nach nur sechs von 28 Monaten Laufzeit war die Stadt wieder in Not.

Sie strukturierte Ende November 2005 (kurz nach dem politisch beschlossenen Aus für Kämmerer Gerd Bultmann) erneut um, die Konditionen: noch schlechter. Das konnte auch nicht dadurch kompensiert werden, dass der damals kommissarisch die Amtsgeschäfte führende Leiter des Finanzmanagements, Jürgen Schürmann, das Volumen der Swap-Geschäfte um 45 Mio Euro reduzierte. Mittlerweile lag das Verlustrisiko für die Stadt bei den beiden verbliebenen Swaps im einen Fall 18, im anderen gar 33 Mal höher als die Gewinnchance.

Vorläufige Bilanz: Bis 2007 summierten sich bei der Stadt Verluste von 6,083 Mio Euro.