Mülheim. Das Wissoll-Vereinsheim könnte mit Zwangsarbeit in der Nazizeit zu tun gehabt haben. Warum Mülheims Parkstadt-Investor es dennoch abreißen lässt.

Die Historie einer alten, grünen Baracke, versteckt gelegen hinter Bäumen und Büschen am Sportplatz des ehemaligen Tengelmann-Geländes, beschäftigte jüngst das LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland und damit auch Mülheims Amt für Bauaufsicht und Denkmalpflege. Ist das Gebäude ein Zeugnis dunkler NS-Vergangenheit und damit erhaltenswert – oder eher nicht? Die Antwort war spannend, gerade auch für die Entwickler der Parkstadt. Dort nämlich, wo bislang der hölzerne Bau steht, soll einst der See enden, den sie im Mittelpunkt ihres großen Vorhabens sehen.

Ergebnis vorweg: Das LVR-Amt hält die Baracke für nicht schützenswert. Und nach Auswertung des Gutachtens hat nun auch die Stadt verkündet, das Objekt nicht in die Denkmalliste eintragen zu wollen. Ausschlaggebend war, dass sich die historische Nutzung des Baus nicht einwandfrei nachweisen lasse.

Ende Mai hatten Mitarbeiter die Mülheimer Baracke näher unter die Lupe genommen

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Ende Mai hatten LVR-Mitarbeiter das Gebäude, von dem vermutet wurde, dass es im Zusammenhang mit NS-Zwangsarbeitern steht, unter die Lupe genommen. Auch diverse stadtgeschichtliche Quellen hatten sie ausgewertet, vor allem das 2020 von Lutz Niethammer herausgegebene Buch „Tengelmann im Dritten Reich. Ein Familienunternehmen des Lebensmittelhandels und der Nationalsozialismus“ durchforstet.

Die grüne Holzbaracke mit der Aufschrift BSV Wissoll steht am Rande des Sportplatzes auf dem Gelände der ehemaligen Tengelmann-Hauptverwaltung in Mülheim. Bislang ist ihre Geschichte nicht vollständig geklärt.
Die grüne Holzbaracke mit der Aufschrift BSV Wissoll steht am Rande des Sportplatzes auf dem Gelände der ehemaligen Tengelmann-Hauptverwaltung in Mülheim. Bislang ist ihre Geschichte nicht vollständig geklärt. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Diese Publikation belegt, dass Tengelmann im Zweiten Weltkrieg in Speldorf und an anderen Standorten Zwangs- und Fremdarbeiter beschäftigt hat. Das aber reichte vorliegend nicht. Denn: „Trotz intensiver, bundesweiter Recherchen in diversen Archiven konnte das Team von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen um Niethammer keine näheren Informationen über die Anzahl der Personen, die Lebensverhältnisse und Wohnumstände, die Organisation etc. in Erfahrung bringen“, so die Behörde.

Ab Ende der 60er, Anfang der 70er wurde der Bau zum Vereinsheim des BSV Wissoll

Auch Kontakte zum Mülheimer Stadtarchiv, zum hiesigen Geschichtsverein, zum Tengelmann Konzernarchiv und zum städtischen Katasteramt führten zu keinem weiteren Ergebnis. Fest steht aber, dass die Baracke nach 1968 als Vereinsheim des BSV Wissoll diente und damals baulich verändert wurde. Einer, der sich an den BSV noch gut erinnern kann, ist Jürgen Pechtheiden, der letzte Betriebsratsvorsitzende der Firma Wissoll. 2003, bei der Abwicklung von Wissoll, hatte er den Sozialplan für etliche Kollegen und Kolleginnen ausgehandelt, war dann noch bis zur Rente 2013 bei Tengelmann als Starkstromelektriker angestellt.

Jürgen Pechtheiden, langjähriger Mitarbeiter bei Wissoll und Tengelmann in Mülheim, bei seinem Abschied in den Ruhestand 2013.
Jürgen Pechtheiden, langjähriger Mitarbeiter bei Wissoll und Tengelmann in Mülheim, bei seinem Abschied in den Ruhestand 2013. © FFS | Tanja Pickartz

„Einen Tag nach dem WM-Finale zwischen Deutschland und den Niederlanden im Juli 1974“ hatte Pechtheiden bei Wissoll angefangen. Als sportbegeisterter Mensch war er auch Mitglied im hauseigenen Betriebssportverein, „einem reinen Fußballclub“. Regelmäßig traten Kicker aus der Verwaltung gegen solche aus der Produktion oder gegen die Handwerker an. „Später gab’s auch Punktespiele gegen andere Betriebssportmannschaften oder Mitarbeiter der Stadtverwaltung.“ Der 75-Jährige erinnert sich an „rauschende Siegesfeiern“ und an die große Unterstützung von Erivan Haub, „der den BSV ganz toll fand“.

Ob das Vereinsheim, das nach und nach für den BSV mit Umkleiden und Duschen ausgestattet wurde, in der NS-Zeit womöglich als Zwangsarbeiter-Unterkunft gedient hat, „ist mir unbekannt“. Auch im Kreise der alten Wissollaner, mit denen Pechtheiden sich noch monatlich trifft, gebe es niemanden, der davon Kenntnis habe.

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Dass die Baracke einst ganz gewiss mit Zwangsarbeitern zu tun hatte, glaubt indes Joachim Mahrholdt. Der Speldorfer besitzt in unmittelbarer Nachbarschaft von Tengelmann eine Immobilie und beobachtet das Geschehen auf dem Areal auch als Mitglied des Netzwerkes „Parkstadt Mülheim – aber richtig!“. In diesem Fall gehe es aber nicht darum, „das Projekt Parkstadt zu torpedieren“. Es gelte vielmehr, „einem unwiederbringlichen Verlust vorzubeugen und sich jenseits von schöngefärbten Zukunftsvisionen einer unangenehmen Historie bewusstzuwerden, die bis in unsere Gegenwart hineinreicht“. Für Marholdt wäre „ein Dokumentationszentrum als Anlaufstelle für Bürger“ eine gute Idee; Vergleichbares kennt er aus Berlin.

Dirck Lietke, einst Bauchef bei Tengelmann, kämpft ebenfalls für den Erhalt des Baus

Gegen einen Abriss der Baracke kämpft auch der Mülheimer Architekt Dirck Lietke, jahrzehntelang Bauchef bei Tengelmann. Er hatte die Denkmalschutz-Prüfung im März angestoßen. Auch, weil er 2021 einen Beitrag zum städtebaulichen Wettbewerb für die Parkstadt eingereicht, aber eine Absage vom Stadtplanungsamt eingefahren hatte. Darin, so Lietke, habe die Stadt noch betont, dass sie „die Erlebbarkeit der Geschichte des Areals erhalten“ wolle. Genau das aber sei nun in Gefahr.

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Lietke hat sich in Hamburg eine unter Denkmalschutz stehende Zwangsarbeiterbaracke angesehen und Ähnlichkeiten mit der Tengelmann-Baracke ausgemacht. Ein Foto auf Seite 353 in Niethammers Buch zeigt seines Erachtens das entsprechende Gebäude. „Der Hochspannungsmast im Hintergrund, der auch heute noch steht, bezeugt den Standort Speldorf.“ Der Bau sei daher „vor den Soravia-Baggern zu schützen“.

Niethammer selbst formuliert vorsichtiger. Er schreibt zwar, dass das Unternehmen auf dem Firmengelände in Speldorf Unterkünfte für „seine“ Ausländer errichtet hatte. Und nimmt als Beleg zum Beispiel die Todesbescheinigung eines Maurers, der bei einem Fliegerangriff ums Leben gekommen war, und dessen Adresse „Lager Tengelmann Ulmenallee 32“ lautete. Doch wer, wie, wo, wann genau untergebracht war, schreibt er nicht, und nutzt in der entsprechenden Bildunterzeile auch bewusst das Wort „vermutlich“.

Nur weil es abgerissen werden darf, muss es das ja nicht“, so der Chef der Bauaufsicht

Was heißt nun all das? „Nur weil ein Gebäude abgerissen werden darf, muss es ja nicht abgerissen werden“, sagt Axel Booß, Leiter der städtischen Bauaufsicht. Man könne die Pläne für die Parkstadt auch anpassen. Doch bei Investor Soravia hat man sich am Donnerstag festgelegt. Auf Anfrage teilte Lorenz Tragatschnig, Chef der Projektentwicklung, mit, dass „der Rückbau“ der Immobilie beschlossene Sache ist.

„Der Erhalt von schützenswerten Gebäuden ist uns immer ein Anliegen, auch in der Parkstadt.“ Man mache alte Gebäude zukunftsfähig, habe auch dort schon 44.000 Quadratmeter Gewerbefläche „im revitalisierten Altbestand“ vermietet. Die Baracke aber sei „sehr baufällig“. Zudem habe die Denkmalschutz-Prüfung gezeigt, „dass sie weder aus bautypologischer noch aus historischer Sicht schützenswert ist“. Aus diesem Grund, „und nicht zuletzt auch, um Verkehrssicherungspflichten nachzukommen“, werde man sie abreißen.