Mülheim. .

An die traditionsreiche Süßwarenfabrik Wissoll erinnert nur noch die Leuchtreklame auf dem Dach der Tengelmann-Zentrale in Speldorf. Zehn Jahre nach Ende der Produktion von Gummibärchen und Bonbons verabschiedet sich nun auch der letzte Betriebsratschef: Jürgen Pechtheiden geht in Rente.

Als Ur-Mülheimer hat Pechtheiden die Glanzzeiten der Fabrik miterlebt, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Ende der 80er-Jahre Mülheimer Süßigkeiten den russischen Markt fluteten und über 2000 Menschen bei Wissoll ihr Geld verdienten. Im Sommer 2003 hatte der heute 65-Jährige aber auch die traurige Pflicht, als Betriebsratsvorsitzender in den Produktionshallen das Licht auszuschalten.

2003 verkaufte Tengelmann die Süßwarenfabrik

„Ich habe immer mit Herzblut für Wissoll gearbeitet. Es tat schon weh, mit ansehen zu müssen, wie es mit dem Betrieb immer weiter bergab ging“, sagt Pechtheiden. Ein Protestmarsch mit schwarzen Luftballons durch die Stadt, Solidaritätsbekundungen durch Politik, eigene Konzepte und ein langer Kampf um Arbeitsplätze konnten am Ende den fahrenden Zug nicht aufhalten.

Zum 30. Juni 2003 verkaufte Tengelmann die Süßwarenfabrik an das Dortmunder Unternehmen van Netten, „da eine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation“ von Wissoll nicht zu erwarten gewesen sei, wie Konzernchef Karl-Erivan Haub damals erklärte.

Ein Stück Geschichte ist seit Herbst 2012 im „Technikum“

100 Beschäftigte fanden in Dortmund einen Job, für die übrigen handelte Betriebsrat Pechtheiden einen Sozialplan aus. Er selbst hatte Glück und konnte nach 13 Jahren als Arbeitnehmervertreter in seinen gelernten Beruf als Starkstromelektriker bei Tengelmann zurückkehren. „Für diese Chance war ich sehr dankbar. Sonst wäre ich bei Hartz IV gelandet“, betont er.

Und so wirkte er mit, die riesigen Produktionshallen seiner früheren Wirkungsstätte Wissoll, bei der er seit 1974 gearbeitet hatte, zurück- und in moderne Büroetagen umzubauen. Ein Stück Geschichte ist seit Herbst 2012 im „Technikum“ zu sehen. Dort stellt Tengelmann historische Fahrzeuge und Maschinen aus.

Krise zu Beginn des Jahrtausends sind nun vergessen

Die Erinnerungen an Höhen und Tiefen leben in Pechtheidens Gedächtnis fort. Da war die Investition in eine hochmoderne Schokoladentafel-Straße, die es nach seiner Einschätzung mit denen der großen Markenhersteller aufnehmen konnte. Da war aber auch der große Streik für die Lohnfortzahlung vom 25. November bis 5. Dezember 1996 – ein Novum im Familienunternehmen Tengelmann, das den sozialen Frieden stets auf seine Fahnen geschrieben hat.

Die Auseinandersetzungen und die Krise des Handelskonzerns zu Beginn des Jahrtausends sind nun vergessen. Jürgen Pechtheiden sieht Tengelmann „auf einem guten Weg“. Er werde als Privatier „das gute Betriebsklima“ an der Wissollstraße vermissen.

Zur Person

Jürgen Pechtheiden wuchs an der Südstraße und später am Werdener Weg auf. Als 15-Jähriger wurde er Vollwaise. Die Vormundschaft übernahm sein Onkel Fritz Denks, SPD-Bürgermeister und Landtagsabgeordneter. Nach seiner Ausbildung zum Starkstromelektriker bei Phoenix Rheinrohr in Mülheim blieb er der Mannesmann-Vorgängergesellschaft bis 1972 treu. Nach Stationen in einigen anderen Unternehmen kam Pechtheiden 1974 zu Wissoll, wo er rasch den Spitznamen „Der 380-er“ erhielt, weil er den Maschinenpark der Fabrik auf 380 Volt umstellte.

Das Herz des Gewerkschafters schlägt aber nicht nur für Strom. Pechtheiden ist auch in der SPD tätig und gehörte 1967 zu den Gründungsmitgliedern des SV Raadt, wo er selbst Fußball spielte. Sport will er auch in seinem Ruhestand treiben: Wandern und Laufen sind seine Passion. Als Schalke-Fan sitzt Jürgen Pechtheiden allerdings als Zuschauer auf der Tribüne.