Mülheim. Mülheims Kämmerer berichtet Außergewöhnliches: Warum die überschuldete Stadt im Jahr 2022 ein dickes Plus gemacht hat – und was das bedeutet.

Erst jetzt, da das Haushaltsjahr 2022 abgeschlossen ist, hat Mülheims Stadtkämmerer Frank Mendack die Katze aus dem Sack gelassen: Der Jahresabschluss ist noch nicht abgeheftet, doch blieb am Ende eine stolze Summe von 69 Millionen Euro übrig für das überschuldete Mülheim.

2023 wird das letzte Jahr sein, das Mülheim im „Stärkungspakt NRW“ verbringt. 2017 war das überschuldete Mülheim als letzte kreisfreie Stadt Nordrhein-Westfalens in das Landesprogramm zur Hilfe für finanziell notleidende Kommunen aufgenommen worden. Mülheim hatte sich damit zu strikter Haushaltsdisziplin verpflichtet mit schmerzhaften Einsparungen oder Steuererhöhungen (39 Prozent mehr bei der Grundsteuer). Im Gegenzug flossen 158 Millionen Euro Landeshilfe nach Mülheim, um den Haushalt zu stabilisieren.

Stadt Mülheim hat Kredite in Milliardenhöhe, um ihre Liquidität zu sichern

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Schon früher, als vom Land vorgeschrieben, schaffte Mülheim es, nach Jahren einer Turbo-Verschuldung, die bundesweit ihresgleichen suchte, endlich mal eine schwarze Null zu schreiben. Nun überraschte Kämmerer Mendack nicht nur die Öffentlichkeit, sondern wohl auch die Ratspolitik mit der Nachricht, dass am Ende des Haushaltsjahres 2022 rund 69 Millionen Euro mehr eingenommen als ausgegeben sind. In der Dezember-Sitzung des Finanzausschusses hatte Mendack der Politik dies noch nicht in Aussicht gestellt.

Jetzt verkündete er bloß noch, dass die Millionen auch schon wieder weg sind, also nicht für politische Projekte zur Verfügung stehen. Mendack hat, so wie es im Stärkungspakt reglementiert ist, den Überschuss direkt in die Schuldentilgung gesteckt. Für Investitionen etwa in das marode Gymnasium Heißen oder in die VHS hätte der Überschuss nicht verwendet werden dürfen. Die Gesamtverschuldung der Stadt summiert sich auf 2,1 Milliarden Euro, allein die Hälfte der Kredite ist aufgenommen, um das laufende Geschäft, die Liquidität zu sichern. Jene Liquiditäts- oder auch Kassenkredite hat Mendack nun auf 1,044 Milliarden Euro gedrückt.

Anders als früher: Mülheims Kämmerer lobt die Politik für ihre Ausgabendisziplin

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Jetzt, wo Mülheim dem Stärkungspakt-Ende entgegensteuert, sind folglich die immensen finanziellen Probleme der Stadt noch nicht gelöst. Aber es scheint sich eine Kehrtwende zu verfestigen, denn Mendack kann auch aufzeigen, dass Mülheim auch ohne Stärkungspakt-Mittel und unter Berücksichtigung der Corona-Kosten, die Kommunen laut Landesvorgabe vom Haushalt „isolieren“ dürfen, eine schwarze Zahl unter dem Strich stehen hat. Jahrelang undenkbar für Mülheim: Die Einnahmen reichen aktuell, um die Ausgaben zu bestreiten. Noch Anfang des vergangenen Jahrzehnts hatte Mendacks Vorgänger Uwe Bonan Jahresabschlüsse mit Defiziten in dreistelliger Millionen-Höhe verkündet. Die Zeiten scheinen vorbei.

„Mehrere Faktoren“ macht Mendack für die kleine Zeitenwende verantwortlich. Als Erstes nennt er einen Paradigmenwechsel in der Politik. Der Stadtrat habe zuletzt immer wieder Haushalte auf Basis einer seriösen Schätzung verabschiedet, habe die Einnahmen nicht künstlich und allzu optimistisch höher ansetzen lassen, um mehr Ausgaben zu rechtfertigen. Die Regeln des Stärkungspaktes lässt Mendack auch nicht unerwähnt: So war es der Ratspolitik seit 2017 auch gar nicht erlaubt, zusätzliche freiwillige Aufgaben und Ausgaben zu definieren.

Vor allem Gewerbesteuer sprudelte in Mülheim kräftiger als kalkuliert

Die konservative Schätzung der Einnahmenentwicklung ist denn laut Mendack auch wesentlicher Grund für das 69-Millionen-Wunder von Mülheim. So habe die Stadt im Vorjahr fast 40 Millionen Euro mehr Gewerbesteuer eingenommen als veranschlagt. Im Einklang mit den Fraktionen, die den Doppelhaushalt 2022/23 mitgetragen haben, habe man mit Blick auf die unsichere Corona-Situation und ihre Auswirkungen auf die heimischen Betriebe vorsichtig kalkuliert. Nun sei deutlich mehr herausgekommen, was dem Schuldenabbau diene. Auch der Ukraine-Krieg und seine Folgen hätten hier das Ergebnis nicht negativ beeinflusst. Eine positive Einnahmeentwicklung konstatiert der Kämmerer auch bei dem kommunalen Anteil an Einkommen- und Umsatzsteuer. Für ihn hat der Staat mit seinen vielfältigen Hilfen hier geholfen, dass aus Risiken nicht Realität geworden ist.

Rosig sind die Zeiten damit noch lange nicht. Risiken aus den mannigfachen Krisen bleiben. Die Gewerbesteuer bleibt eine fragile, weil kaum sicher vorhersagbare Einnahmequelle. Die Auswirkungen des Zinsanstieges werden im hoch verschuldeten Mülheim mehr und mehr ankommen, wenn in großen Teilen mittlerweile längerfristig angelegte Kredite umzuschulden sind. Mendack rechnet aktuell hierbei mit zwei bis drei Millionen Euro Mehrbelastung pro Jahr. Auch die teure Energie belastet Mülheims Haushalt aktuell noch nicht gravierend, weil Energieverträge bereits vor der Preisexplosion längerfristig abgeschlossen worden waren.

Mülheims Kämmerer sieht für 2023 Zusatzbelastungen in Höhe von 50 Millionen Euro

So blickt Mendack schon auf das gerade erst angefangene Haushaltsjahr 2023 „deutlich kritischer“, da zusätzlich deutliche Steigerungen der Personalkosten durch anstehende Tarifabschlüsse oder Zusatzbelastungen im öffentlichen Nahverkehr drohen: durch höhere Personal- und deutlich gestiegene Wartungs- sowie Materialkosten. Zusatzkosten seien zudem durch die Energiekosten bei der Unterkunft, Ausfälle durch die Einkommensteuerreform zu erwarten. Alles in allem rechnet Mendack für 2023 mit negativen Effekten in Höhe von rund 50 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr und sagt: „Für das laufende Jahr wäre es schön, wenn wir unser Kreditniveau halten können.“ Einen weiteren Schuldenabbau hält Mendack also Stand jetzt für fragwürdig.

Zum 1. Januar 2024 verlässt Mülheim den Stärkungspakt. Für einen Ausblick sei es noch zu früh, so Mendack, „die Krise ist nicht vorbei, wir wissen nicht, was das Jahr bringt“. Wenn sich der Trend auf der Einnahmeseite aber verstetige und sich im Jahresverlauf zeige, dass einige der Risiken nicht so schwer zum Tragen kommen wie befürchtet, sei aber „nicht auszuschließen, dass wieder finanzielle Spielräume entstehen können“. Mendack plädiert für einen solchen Fall an die Politik, nachhaltig zu denken, Rückstellungen etwa zur Instandsetzung der vielen maroden Straßen (500 Millionen Euro Sanierungsstau) zu bilden oder für die energetische Ertüchtigung öffentlicher Gebäude.