Mülheim. Mülheims Feuerwehr bekommt zwar mehr Personal, trotzdem drohe dem System „der Kollaps“. Immer wieder werde der Notruf von Bürgern missbraucht.

Der Mülheimer Stadtrat hat den neuen Brandschutzbedarfsplan für die Jahre 2022 bis 2026 einstimmig verabschiedet. Die örtliche Feuerwehr rüstet sich für die Zukunft. Laut Plan sind 19,5 zusätzliche Stellen nötig, sowohl im feuerwehrtechnischen Dienst als auch in der Verwaltung. Sie sollen 2024 eingerichtet und ausgeschrieben werden.

Davon verspricht sich die Feuerwehr Entlastung, denn sie hat wachsende Anforderungen zu meistern, etwa im Zivil- und Katastrophenschutz. Zugleich wirkt Amtsleiter Sven Werner besorgt. Er frage sich, „ob wir auch künftig noch alles bezahlen können, was wir an Aufgaben dazu bekommen“. Auch werde es immer schwieriger, genügend Fachkräfte zu gewinnen. Und speziell die Lage im Rettungsdienst sei alarmierend, so Werner: „Das System ist überlastet.“ Aus Gründen, die die Feuerwehr kaum beeinflussen kann.

Feuerwehrchef: Zwei Drittel der Rettungsdienstfahrten in Mülheim unnötig

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Rund 25.000 Mal pro Jahr rücken Rettungswagen in Mülheim für Notfälle aus, die oft gar keine sind. Die Zahl der Einsätze steige immer weiter, berichtet der Feuerwehrchef, doch zwei Drittel der Fahrten müssten gar nicht sein. Immer häufiger rufen Leute die 112 an wegen Lappalien, vom angeblich „unstillbaren Nasenbluten“ über ein „schwer fieberndes Kind“ (gemessen werden dann 38 Grad), bis hin zum Muskelkater nach dem Hobbysport. Auch Feuerwehrsprecher Florian Lappe schildert einen aktuellen, fragwürdigen Fall: Eine Mülheimerin lässt sich nachts vom Rettungswagen ins Krankenhaus kutschieren, ihr Ehemann steigt ins Auto und fährt hinterher.

Nur etwa zehn Prozent der Einsätze gelten Menschen, die wirklich in einem lebensbedrohlichen Zustand sind, schätzen die Verantwortlichen der Mülheimer Feuerwehr. In weiteren 20 bis 30 Prozent sei es ernst. Doch 60 bis 70 Prozent seien kein Fall für den Rettungsdienst, mit teils fatalen Folgen: Wenn ein echter Notruf eingeht, ist vielleicht kein Fahrzeug rechtzeitig verfügbar. „Der Rettungsdienst wird ausgenutzt und missbraucht“, kritisiert Sven Werner, und bestätigt genau das, was Rettungsdienstexperten gerade landesweit anmahnen. „Das System steht vor dem Kollaps, und wir werden es nicht heilen durch mehr Fahrzeuge oder mehr Personal.“ Die Bevölkerung müsse sich auf ihre Selbsthilfefähigkeiten besinnen, jeder und jede Einzelne sei gefragt.

Künftig drei Stellen statt nur einer für Zivil- und Katastrophenschutz

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Abgesehen von der Überlastung des Rettungsdienstes gibt es etliche Gründe, warum die Feuerwehr mit dem verfügbaren Personal nicht mehr auskommt. Sie sind im neuen Bedarfsplan detailliert aufgelistet. So haben sich rechtliche Rahmenbedingungen geändert, beispielsweise wurde die zulässige Wochenarbeitszeit verringert, wurden Urlaubsansprüche erhöht.

Wie anderswo auch nehmen Beschäftigte der Feuerwehr immer häufiger Elternzeit in Anspruch, lassen sich für Kinderbetreuung freistellen oder arbeiten (befristet) in Teilzeit. Aufgestockt wird auch im Bereich Zivil- und Katastrophenschutz, für den die Mülheimer Feuerwehr aktuell nur eine einzige Stelle zur Verfügung hat. Drei sollen es werden - zunächst, „denn die Aufgaben, die auf uns zurollen, sind gewaltig“, so der Feuerwehrchef.

Hohes Krebsrisiko bei der alltäglichen Arbeit

Der Gesundheitsschutz soll künftig eine größere Rolle spielen: Wie im neuen Brandschutzbedarfsplan dargelegt, wurde die Arbeit von Feuerwehrleuten durch die Internationale Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation als krebserregend in der höchsten Risikostufe eingeordnet. Sie kommen bei Brand-, Rettungs- oder Hilfseinsätzen häufig mit gefährlichen Stoffen in Berührung, etwa Rußpartikel, Krankheitserreger, chemische Substanzen.

Nun soll jeweils eine Person mit der Hygiene am Einsatzort betraut werden, sich beispielsweise um Desinfektionsmaßnahmen kümmern oder um die Reinigung der Einsatzkleidung direkt vor Ort. Auch diese zusätzliche Funktion lässt den Stellenbedarf weiter anwachsen.

Geeignete Nachwuchskräfte immer schwieriger zu finden

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Neben den 19,5 zusätzlichen Stellen, die der Stadtrat jetzt bewilligt hat, sollen 2024 auch zwei Plätze für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) oder den Bundesfreiwilligendienst eingerichtet werden. Ein Großteil der zu schaffenden Stellen könne anteilig über den Rettungsdienst refinanziert werden, heißt es in der einstimmig beschlossenen Vorlage. Den städtischen Haushalt belastet das Gesamtpaket danach noch mit jährlich 780.000 Euro.

Geeignete Fach- und auch Nachwuchskräfte zu finden, wird für die Feuerwehr immer schwieriger. Das Berufsfeld genieße nach wie vor ein gutes Image, stellt Sven Werner fest, dies locke junge Leute durchaus an. „Doch die Qualität der Bewerber nimmt immer mehr ab, vor allem im sportlichen Bereich, aber auch im Schriftlichen, in der Theorie.“ Eine genaue Erklärung dafür habe er nicht. Im kommenden Jahr 2023 werden zwölf angehende Brandmeisteranwärter und - anwärterinnen ihre Ausbildung bei der Feuerwehr Mülheim beginnen. Mehr als 400 Bewerbungen seien eingegangen - eine Zahl, die Werner sofort relativiert, da sich die meisten jungen Leute gleichzeitig bei mehreren Feuerwehren im Umkreis bewerben.

Sven Werner, Leiter der Feuerwehr Mülheim, blickt mit einigen Sorgen in die Zukunft.
Sven Werner, Leiter der Feuerwehr Mülheim, blickt mit einigen Sorgen in die Zukunft. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Deutlich mehr Geld für Aktive der Freiwilligen Feuerwehr

Die Freiwillige Feuerwehr in Mülheim, die erst 2001 gegründet wurde, hat momentan rund 110 aktive Mitglieder, die zwei Löschzüge auf den Geländen der Feuerwehrwachen Broich und Heißen bilden. Das Soll wären eigentlich 66 Ehrenamtliche pro Standort, also 132 Personen, so dass in Mülheim nur rund 83 Prozent dieses Ziels erreicht werden. Dennoch bewertet die Mülheimer Feuerwehrführung den Personalbestand als „sehr positiv“, da es die Freiwillige Feuerwehr in der Stadt erst seit relativ kurzer Zeit gibt.

Um für die ehrenamtlichen Führungskräfte einen zusätzlichen Anreiz zu schaffen, wird ihre Aufwandsentschädigung deutlich erhöht. Bislang bekam etwa ein(e) Gruppen- oder Löschzugführer(in) gerade einmal 130 Euro im Jahr, Sprecher(in) oder Jugendwart(in) nur 65 Euro jährlich, der/die Gerätewart(in) überhaupt kein Geld. Mülheim sei damit Schlusslicht im Städtevergleich, heißt es im Bericht. Künftig gibt es als Aufwandsentschädigung, je nach Funktion, einen bestimmten Prozentsatz dessen, was Ratsmitglieder oder Bezirksvertreter bekommen. So erhält ein Sprecher der Freiwilligen Feuerwehr jetzt 1260 Euro pro Jahr, eine Zugführerin 1197 Euro, ein Gerätewart 171 Euro. Ab 2026 sollen diese Sätze noch weiter steigen.

Fahrzeug- und Gerätepark auf aktuellem Stand

Ihren Bestand an Einsatzfahrzeugen und -geräten betrachtet die Mülheimer Feuerwehr als „angemessen“. Seit Jahren werde rechtzeitig Ersatz beschafft, technisch sei man auf dem aktuellen Stand. Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, etwa die Flutkatastrophe im Juli 2021, haben allerdings zu einigen Anpassungen im Fahrzeug- und Gerätepark geführt, heißt es im Bedarfsplan. So seien etwa - mit hundertprozentiger Bundes-Förderung - ein System zur Trinkwassernotversorgung angeschafft worden, das wochenlang im Ahrtal zum Einsatz kam, ebenso sechs große Stromerzeuger.

Auf dem Wunschzettel der Mülheimer Feuerwehrführung steht aktuell noch ein Pkw als Erkundungs-, Warn- und Lotsenfahrzeug.

Neues Grundstück für Rettungswache Süd im Blick

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Unverändert sieht der neue Brandschutzbedarfsplan die Gründung eines dritten Löschzugs plus Bau eines neuen Gerätehauses im Stadtteil Saarn vor. Der Stadtrat hat darüber schon im September 2020 entschieden, an selber Stelle soll eine neue Rettungswache Süd entstehen. Das Vorhaben bleibt eine Dauerbaustelle, denn der zuletzt favorisierte Standort an der Mintarder Straße wurde nach dem Sommerhochwasser 2021 als Überflutungsgebiet eingestuft und scheidet aus.

Nun ist offenbar wieder Land in Sicht: Eine „positive Perspektive“ zeichne sich ab, sagt Feuerwehrleiter Sven Werner, „und das wäre ein richtig gutes Grundstück.“ Mehr verraten mag er allerdings noch nicht, um laufende Verhandlungen nicht zu gefährden.