Mülheim. Material wird knapp, Preise für Rohstoffe schießen in die Höhe. Wie Lieferschwierigkeiten und Kostenexplosion Mülheimer Betriebe beeinträchtigen.
Materialknappheit, Lieferschwierigkeiten und deutliche Preissteigerungen bei Produkten und Rohstoffen machen derzeit zahlreichen Firmen in Mülheim zu schaffen. 80 Prozent der Unternehmen in der Region Mülheim, Essen, Oberhausen geben laut IHK an, dass sie von Lieferengpässen betroffen sind, bei den Preissteigerungen sind es sogar 87 Prozent. Am härtesten trifft es die Industriebetriebe – zwei Mülheimer Unternehmer berichten, wie sehr die weltweite Lage ihre Betriebsabläufe ins Stocken bringt.
Maschinenbauteile stellen sie bei der Georg Beyer GmbH in Styrum her, Einzelstücke oder Kleinserien nach kundenspezifischen Vorgaben, mittlerweile seit beinahe 77 Jahren. „Mit so einer Materialknappheit hatte auch Firmengründer Georg Beyer zu kämpfen, als er den Betrieb im November 1945 aus der Taufe hob“, blickt der heutige Geschäftsführer Thomas Kretschmer zurück. Was Kretschmer, der die Georg Beyer GmbH vor drei Jahren übernommen hat, gerade am Markt erlebt, nennt er „völlig verrückt“.
Rohstoff-Preise ändern sich durch die weltweite Materialknappheit schnell
Denn: Rechnet er einem Kunden ein Angebot aus und fragt beim Lieferanten an, was das Material dafür kosten soll, hat sich der Preis heute längst überholt, wenn der Kunde kurze Zeit später Rückmeldung zum Angebot gibt. Eine Preissteigerung von 30 Prozent sei da keine Seltenheit, sagt Kretschmer und zeigt die Folgen auf: „Dann stimmt meine Kalkulation nicht mehr und ich muss meinen Kunden bitten, mehr zu zahlen.“ Teils sei der Stahlpreis je nach Sorte gar um 50 und 100 Prozent gestiegen.
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Die Konsequenz sei, dass seine Kunden – dazu zählen etwa Vallourec, Europipe und Pfeifer Drako – mitunter Aufträge nach hinten schieben. „Das tut uns nicht gut. Ich brauche die Aufträge, um meine Leute zu beschäftigen, sonst droht uns unter Umständen Kurzarbeit“, blickt Kretschmer auf sein Team mit 16 Mitarbeitenden. Zudem trieben aktuell die hohen Energiepreise die Kostenspirale zusätzlich in die Höhe: „Wir heizen unsere Halle noch mit Öl.“
Schon während der Corona-Pandemie gab es Containerstaus in den Seehäfen
Schon durch die Pandemie sei es zu Lieferschwierigkeiten gekommen, schildert Kretschmer: „Es gab Containerstaus in den Seehäfen, da war die Kette schon ins Wanken gekommen.“ Jetzt aber erschwere der Krieg in der Ukraine die Lage zusätzlich – und das in erheblichem Umfang. „Bei den Materialien, die wir benötigen, ist Russland stark am Markt, da wird sich wegen des Embargos so schnell nichts tun“, ordnet der Georg-Beyer-Chef ein. „Zudem sind drei große Stahlwerke in der Ukraine und in Belarus jetzt Knall auf Fall weg vom Markt. Zwei Werke in der Ukraine sind zerstört worden, die kriegt man ja auch nicht so schnell wieder aufgebaut.“
Alternative Lieferwege zu finden, sei nicht einfach, sagt Kretschmer. Stahlproduzenten und Rohstoff-Anbieter säßen zwar auch in Indien und Brasilien. „Aber da kommt man so schnell nicht an das Material ran. Bis das in Europa ankommt und eine entsprechende Lieferkette aufgebaut ist, dauert es Monate.“ Früher, so blickt Kretschmer noch einmal zurück auf die Anfänge und Hochzeiten der Georg Beyer GmbH, „da hatten wir die Produzenten noch hier vor der Haustür“.
Unternehmer: Preisgültigkeit im Stahlhandel hat teils keine zwei Stunden Bestand
Ähnlich angespannt ist die Situation bei der Global Stahl Group, die der Mülheimer Markus Effmann in Duisburg betreibt: „Als Stahlhandel beliefern wir den Maschinenbau und die Großindustrie, produzieren Großmechanik etwa für Siemens, RWE und Thyssenkrupp.“ Auch der Saarner bekommt täglich zu spüren: „Eine Preisgestaltung im klassischen Sinne ist derzeit nicht mehr möglich. Wenn ein Lieferant etwas an Stahl hat, kann er dafür derzeit nehmen, was er will.“ Die Preisgültigkeit habe teils keine zwei Stunden Bestand.
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Für Markus Effmann ist das Problem hausgemacht: „Der Produktionsstandort für Stahl in Deutschland wurde drastisch zurückgefahren, bestimmte Werkstoffe für den Maschinenbau kommen heute vornehmlich aus Russland und der Ukraine. Das in Billiglohnländer zu geben, rächt sich jetzt.“ Viele seiner Kunden seien im Bereich der Bergbauindustrie aktiv, hätten sich nach dem Ende des Bergbaus in Deutschland neue Betätigungsfelder in Russland gesucht. „Wenn so ein Riesenmarkt wegbricht, geht bei uns auch der ein oder andere Kunde weg. Und mal eben neue Kunden aufzubauen, ist nicht einfach.“
Alternativmärkte in Brasilien sind für kleine Mittelständler kaum zu erreichen
In Alternativmärkte einzusteigen, sei für kleine Mittelständler wie ihn und seinen Kollegen Kretschmer von der Georg Beyer GmbH, extrem schwierig, sagt Effmann: „Die Hürden nach Brasilien sind so hoch, vielfach scheitert das schon an den Genehmigungen.“
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Doch keine drei Stunden vom Ruhrgebiet entfernt lagert noch Material, auf das Effmann sehnlichst wartet: „In Antwerpen liegen im Zolllager noch gut 100.000 Tonnen. Doch Ware, die aus dem Kriegsgebiet kommt, kriegt man nicht so einfach aus dem Zoll.“
Hohe Frachtraten auch beim Export machen Mülheimer Unternehmer zu schaffen
„Absolute Willkür“, sagt Effmann, erlebe er aktuell auch beim Export. Seine Firmen liefern Komponenten etwa nach Ungarn, Polen, Tschechien, Benelux und Österreich. „Wir haben extreme Probleme, überhaupt Waggons bei der Bahn zu bekommen oder unsere Sachen per Lkw zu akzeptablen Preisen transportieren zu lassen“, schildert der Mülheimer und nennt ein Beispiel: „Ich hatte gerade 52 Kilo Spezialstahl aus München abzuholen. Dafür hat der Spediteur eine Frachtrate von 377 Euro aufgerufen – die hätte im Januar noch bei 50 bis 70 Euro gelegen.“
Glück im Unglück hat Markus Effmann indes, was die Energieversorgung anbelangt: Gerade letzte Woche sind endlich seine Photovoltaik-Anlage und die beiden Blockheizkraftwerke an der Firma installiert worden – auch auf sie musste der Unternehmer länger warten als eigentlich geplant. Nun hat er eine – wenn auch kleine – Sorge weniger: „Das macht uns etwas unabhängiger, immerhin.“
Betriebe blicken in unsichere Zukunft
36 Prozent der Unternehmen können laut Industrie- und Handelskammer (IHK) derzeit bestehende Aufträge nicht abarbeiten, 12 Prozent müssen neue Aufträge bereits ablehnen. Fast ein Fünftel der Betriebe muss aufgrund der Lieferschwierigkeiten seine Produktion drosseln oder sogar stoppen, so die IHK.
Fast die Hälfte rechnet nach Angaben der IHK nicht mit einer zeitnahen Lösung – sie erwartet, dass sich die Versorgung mit Material erst im zweiten Halbjahr 2022 oder sogar 2023 verbessern wird. 38 Prozent sehen noch pessimistischer in die Zukunft: Sie befürchten, dass es zu keiner Entspannung kommen wird.