Mülheim. Mülheimer schildern frustrierende Erlebnisse bei der Wohnungssuche. Die SPD fürchtet eine „soziale Vollkatastrophe“. Wie schlimm ist es wirklich?
Wohnungssuche in Mülheim an der Ruhr: Eine betroffene Familie, Sarah Meik mit ihrem Mann und zwei Söhnen, haben wir kürzlich an dieser Stelle erzählen lassen. Sie bemühen sich seit zwei Jahren um eine bezahlbare, größere Wohnung. Sie konkurrieren mit zahlreichen Familien, denen es genauso geht. Das zeigen auch die vielfältigen Reaktionen auf unseren Bericht, etwa in Form von Facebook-Kommentaren.
Auch Familie Meik sucht weiter
Auch Familie Meik, die wir kürzlich an dieser Stelle vorgestellt haben, hat noch keine geräumigere Wohnung gefunden. Sie haben zwei Kinder im Alter von zwölf und einem Jahr, der ältere Junge ist Autist.
Maximal 1100 Euro Warmmiete kann die vierköpfige Familie ausgeben. Zwei Mietangebote hat sie nach unserem Bericht bekommen.
Eine Wohnung liegt weit außerhalb in Winkhausen, mit schlechter Anbindung an den ÖPNV. Die andere liegt direkt an der Eppinghofer Straße - zu rummelig für den autistischen Sohn, meinen die Eltern.
Sie suchen weiter, wie schon seit zwei Jahren. Aus Mülheim wegziehen wollen sie nicht.
Mütter oder Väter mit mehreren Kindern bestätigen, dass sie ebenfalls schon seit zwei, drei oder gar fünf Jahren suchen. Eine junge Frau schreibt: „Wir haben gerade Nachwuchs bekommen und suchen auch. Es ist echt schlimm geworden, als Normalverdiener etwas Bezahlbares zu finden, leider.“ Eine Mutter von Zwillingen nennt die Situation „grauenvoll. Selbst beim 95-Quadratmeter-Haus nur maximal ein Kind… Und die Preise: Manche denken, sie wären in Hollywood.“ Die Alternative: „Bruchbuden“.
Kommentare zu Wohnungsangeboten in Mülheim: Hollywood-Preise oder Bruchbuden
Auch ein junger Mann klingt ratlos: „Wir haben theoretisch ein sehr gutes Profil: ein Kind, beide Vollzeit, gut verdienend, verheiratet und keine Schufa-Einträge und finden in der Umgebung von Essen, Oberhausen und Mülheim nichts zur Miete seit drei Jahren.“
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Gerade Vermieter mittelgroßer Wohnungen um die 80 Quadratmeter scheinen Kinderlose massiv zu bevorzugen, so auch die Erfahrung einer anderen Facebook-Nutzerin: „Wenn Singles oder kinderlose Paare bezahlbaren Wohnraum in dieser Größe bekommen, bleiben nur noch die Wohnungen ab 90 Quadratemter aufwärts für Familien, und die kann kaum jemand bezahlen.“
Junges Paar ohne Kinder wurde nach zwei Wochen fündig
Zu den (noch) kinderlosen Paaren gehören Nick Rommel und seine Partnerin, für die die Wohnungssuche offenbar ein Leichtes war – obwohl sie Hundebesitzer sind. „Es funktioniert schnell, wenn man das normale Geld in die Hand nimmt“, meint der 21-Jährige. Über Ebay hätten sie gerade mal zwei Wochen gesucht und bei acht, neun Angeboten unterschreiben können. Jetzt leben sie auf 87 Quadratmetern in Winkhausen, zahlen 670 Euro warm. „Wenn man sich auf die Socken macht, gibt es so viele freie Wohnungen“, meint der junge Mann. Sein Tipp: „Einfach mal durch die Straßen laufen und auf Schilder achten.“
Handlungskonzept verlangt jährliche Berichte der Verwaltung
Das Thema Wohnraum heizt in Mülheim auch immer wieder politische Debatten an. Zuletzt gab es Mitte April im Wirtschaftsausschuss aktuelle Berichte der Verwaltung zum Wohnungsmarkt, die auf Grundlage des 2012 beschlossenen Handlungskonzeptes Wohnen jährlich abgeliefert werden müssen.
Folgende Tendenz zeichnet sich ab: Laut Handlungskonzept, das vom Bochumer Inwis-Institut erstellt wurde, gibt es für den Zeitraum 2010 bis 2025 ein jährliches Nachfragepotenzial von 295 neuen Wohnungen pro Jahr. Bislang wurden im Schnitt 279 neue Wohnungen geschaffen – 16 weniger als wohl notwendig wären. Im Bericht des Amtes für Stadtplanung heißt es aber auch: „Der Wohnungsmarkt ist zu komplex, um Trends und Notwendigkeiten aus einem reinen Zahlengerüst ablesen zu können.“
Seit 2015 mehr als 1100 neue Wohnungen in Mülheim
Die nackten Daten für Mülheim sehen so schlecht auch gar nicht aus. Beispielsweise hat sich die Gesamtzahl der Wohnungen seit 2015 um 1104 erhöht: von 92.750 auf 93.854 (Stand: 31. Dezember 2020). Rund ein Viertel der Wohnungen (27,2 Prozent) liegen in Ein- oder Zweifamilienhäusern, knapp drei Viertel in Mehrfamilienhäusern. Fast genau ein Drittel der Wohnungen hat vier Räume, ist also auch für eine Familie geeignet, weitere 29,1 Prozent der Wohnungen haben fünf oder mehr Räume – diese Zahlen haben sich in den letzten Jahren nur wenig verändert.
Gravierend sind dagegen die Unterschiede zwischen den Stadtteilen, wie beengt oder großzügig die Leute wohnen. So sind in Saarn und in Menden-Holthausen 80 Prozent der Wohngebäude Ein- oder Zweifamilienhäuser, aber nur gut 40 Prozent der Wohnhäuser in der Altstadt oder in Styrum.
Und die durchschnittliche Fläche pro Wohnung bewegt sich zwischen 102,8 Quadratmetern in Menden-Holthausen und gerade einmal 69 Quadratmetern im Bezirk Altstadt II (Eppinghofen). Beengte Wohnverhältnisse sind in jüngster Zeit auch als einer von mehreren Gründen für überhöhte Corona-Inzidenz etwa in Styrum oder Eppinghofen genannt worden.
Beengte oder großzügige Wohnverhältnisse – je nach Stadtteil
Insbesondere sagen die Daten zum Wohnungsbestand noch nichts über die Mietpreise aus und darüber, dass sich viele Mülheimer einfach keine neue, größere Wohnung leisten können, wofür Erfahrungen und auch Erhebungen sprechen. Hier will das Bündnis für Wohnen den Hebel ansetzen, das sich vor anderthalb Jahren in Mülheim gegründet hat, mit Fachleuten aus Politik, Verwaltung und Wohnungswirtschaft. Auf dem Weg zu günstigem Wohnraum für Menschen mit geringem Einkommen hat die Initiative noch viel zu tun. So steigen Baupreise, Grundstückswerte und Mieten deutlich an. Der Anteil sozial geförderter Wohnungsbauprojekte geht zurück. Obwohl gerade in diesem Sektor besondere Förderung durch das Land möglich ist.
Kritik der SPD: Keine Strategie der Verwaltung
Maßgeblich auf Initiative der Mülheimer Sozialdemokraten war das Bündnis für Wohnen 2019 ins Leben gerufen worden. Im Frühjahr 2021 vermag der SPD-Vorsitzende Rodion Bakum keinen Fortschritt erkennen. „Welche Strategie hat die Verwaltung? Auf diese Frage haben wir bisher noch keine Antwort bekommen.“ Tatsächlich werde vielerorts in Mülheim neu gebaut, so Bakum, doch dies seien überdurchschnittlich viele Einfamilienhausprojekte. Jede zweite geplante Wohneinheit solle im Süden der Stadt entstehen, in Menden-Holthausen oder Saarn. Die Pandemie bringe die Ungleichheit besonders scharf ans Licht: „Wie viele Menschen können sich ein Haus mit Garten oder Sonnenbalkon leisten?“
Man müsse den Hebel bei der Entwicklung von Quartieren ansetzen, so der SPD-Chef, und wiederholt die bekannte Forderung seiner Partei: „Wir brauchen mehr öffentlich geförderten Wohnungsbau.“ Auch um zu vermeiden, dass ärmere Menschen mehr als 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die Warmmiete ausgeben müssen. Für Tausende Haushalte in Mülheim gilt das nachweislich.
Rodion Bakum: „Wir schlittern auf eine soziale Vollkatastrophe zu“
Das Bündnis für Wohnen hat sich bei seiner Gründung, einige Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie, selber Hausaufgaben gestellt. Zwei Schwerpunktveranstaltungen sollte es 2020 geben: im ersten Halbjahr zum Thema Planen und Bauen, in der zweiten Jahreshälfte zum Bereich Soziales. Bei dieser Absichtserklärung ist es dann geblieben, lediglich eine Zwischenbilanz wurde im September 2020 vorgelegt. Rodion Bakum kritisiert: „Im Grunde ist noch nichts passiert.“
Aber er will nicht nur mies machen und plädiert für ein neues Vergabekonzept bei der Bebauungsplanung. Nicht der Höchstpreis solle entscheiden, sondern das Konzept, die soziale und ökologische Idee. Weitere SPD-Evergreens hält er im Gespräch: die Gründung einer Stadtentwicklungsgesellschaft sowie bei größeren Bauprojekten feste Quoten für öffentlich geförderten beziehungsweise preiswerten Wohnraum. Andernfalls, so Bakum, sehe er schwarz: „Wir schlittern auf eine soziale Vollkatastrophe zu.“