Herne. Mit der Inklusion galten Förderschulen als Auslaufmodell. In Herne zeigt sich jedoch, dass ihre Popularität steigt. Das führt zu neuen Problemen.
Die vier Förderschulen in Herne platzen buchstäblich aus allen Nähten. Grund dafür sind zwei Trends, die sich zuletzt in Herne zeigten: Zum einen ist die Zahl der Kinder mit Förderbedarf deutlich gestiegen. Ein weiterer Grund: Immer mehr Eltern entscheiden sich gegen das Gemeinsame Lernen in einer Regelschule und schicken ihr Kind lieber auf eine Förderschule. Das hat verschiedene Gründe.
„Wir haben in allen Schwerpunkten eine Zunahme von Kindern mit Förderbedarf“, sagt Andrea Christoph-Martini, Schulamtsdirektorin in Herne. Die Bezirksregierung habe wegen der hohen Förderquote, die in Herne höher sei als woanders, sogar schon mal eine Rüge ausgesprochen. Dabei werde nicht leichtfertig ein Förderbedarf festgestellt. Corona habe die Situation aber weiter verschlechtert, beobachtet Christoph-Martini. „Wenn ein Kind schon lernschwach ist und dann gar nicht gefördert worden ist, hat dieses Kind so viele Rückstände, dass es nicht mehr zielgleich mit anderen Kindern unterrichtet werden kann.“ Es sei sonst vollkommen überfordert.
Herne: Eltern im Gemeinsamen Lernen verunsichert
Es handele sich dann beispielsweise um Kinder, denen am Ende des dritten Schulbesuchsjahres bescheinigt werde, sich jetzt im Zahlenraum bis zehn sicher bewegen zu können oder einzelne Wörter sicher zu schreiben (Förderschwerpunkt Lernen), beschreibt Christoph-Martini. Auch die Zuwanderung spiele dabei eine große Rolle, beobachtet Schulamtsdirektor Dieter Leiendecker, der in Herne für die Förderschulen zuständig ist. Viele Flüchtlingskinder kämen mit schweren Behinderungen und müssen auf die Förderschulen verteilt werden. Zudem gebe es aufgrund des demografischen Wandels generell mehr Schüler und somit auch mehr Förderschüler.
Zudem beobachtet Leiendecker: „Eltern sind im Gemeinsamen Lernen etwas verunsichert, ob die Kinder dort optimal gefördert werden.“ Durch den Lehrermangel, große Klassen und fehlende Sozialpädagogen bestehe die Sorge, dass an einer Regelschule nicht mehr individuell genug auf das Kind mit den Lerndefiziten eingegangen werden könne.
Die Folge: „Die Schülerzahlen an allen vier Förderschulen sind stark gestiegen“, sagt Leiendecker. So hätte beispielsweise die Schülerzahl an der Schule am Schwalbenweg vor einigen Jahren noch bei ungefähr 90 gelegen und jetzt bei 131. Das ist ein Plus von fast 50 Prozent.
Aufnahmestopp für Herner Förderschule?
„Wir sind brechend voll, und das ist für alle eine Grundbelastung“, sagt Gisbert Knierim, Schulleiter der Schule am Schwalbenweg. „Unser Gebäude und Gelände sind nicht für diese Schüleranzahl ausgelegt. Es wird wahnsinnig eng in allen Räumen. Wir haben keine Ausweichräume“, beschreibt Knierim die schwierige Situation vor Ort. Mit 13 Schülerinnen und Schülern pro Klasse bewege sich die Klassenstärke im nächsten Schuljahr zudem an der absoluten Obergrenze der zugelassenen Kinder pro Klasse. „Wenn wir auf dem begrenzten Raum bleiben, muss es einen Aufnahmestopp geben.“
Was noch hinzukomme: „Wie alle Förderschulen in Herne sind wir gerade unterbesetzt, uns fehlt Personal.“ Eigentlich solle ein Teil des Unterrichts an Förderschulen mit dem Schwerpunkt „Geistige Entwicklung“ in Doppelbesetzung stattfinden. Aber: „Das funktioniert schon seit Jahren nicht mehr.“ Es sei insgesamt der Lehrermangel aber insbesondere fehlten Sonderpädagogen. „Alleine zu sein und die sehr unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern zu fördern, macht sich sehr deutlich bei den Kolleginnen und Kollegen und deren Gesundheit sowohl physisch als auch psychisch bemerkbar“, so Knierim.
Dass sich etwas ändern muss, auch an der baulichen Situation der Schule am Schwalbenweg, hat die Stadt im Blick. „Wir nehmen die Realitäten wahr und sagen, wir müssen uns die Förderschulen angucken, haben da bauliche Defizite – gerade am Schwalbenweg“, sagt Schuldezernent Andreas Merkendorf. Das könne eine Sanierung sein, ein Umzug, eine Erweiterung. „Klar ist, so wie das Gebäude jetzt aussieht, ist es nicht zukunftsfähig.“ Vor einigen Jahren sei die Haltung gewesen, dass das System der Förderschulen im inklusiven System aufginge. Aber inzwischen sei die Einstellung eine andere: „Wir möchten die Förderschulen in Herne baulich in den Blick nehmen, weil wir wissen, sie haben Bestand.“ Die Schulen spielten in der Schulentwicklungsplanung eine große Rolle.
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Aber auch das Gemeinsame Lernen soll weiterhin eine wichtige Säule sein, die, wie Schulleiter berichten, gut funktioniert. Wie etwa an der Realschule an der Burg, an der im Moment 36 Förderschüler unterrichtet werden. „Ich bin klarer Befürworter der Inklusion, und wir haben viele gute Erfahrungen gemacht“, sagt Schulleiter Stefan Lindemann. Bei jedem Kind müsse individuell geguckt werden, wo die beste Förderung möglich sei. Und in vielen Fällen, so seine Erfahrung, sei das einfach die Regelschule.
Herner Experte: „Gemeinsames Lernen ist die Zukunft“
Dabei würden Schüler mit emotional-sozialen Defiziten zielgleich unterrichtet und machten die gleichen Abschlüsse. „Beispielsweise ein Autist kann hier doch einen hervorragenden Abschluss machen“, so Lindemann. Förderschüler im Förderschwerpunkt Lernen würden zu anderen Schulabschlüssen geführt – zu speziellen Hauptschulabschlüssen. „Das ist eine ganz große Herausforderung für die Kollegen, unterschiedliche Schüler in verschiedenen Bildungsgängen zu unterrichten.“ Das funktioniere nur, wenn entsprechendes Personal vorhanden sei. Häufig gebe es dann Doppelbesetzungen. Wäre da nicht der Fachkräftemangel – gerade auch im Bereich der Sonderpädagogen.
„Wir versuchen die Eltern schon so zu beraten, dass das Gemeinsame Lernen eigentlich die Zukunft ist“, betont Leiendecker. Aber es sei derzeit eine schwierige Zeit, die verunsichert. „Man muss alles anbieten, was geht, aber manche Dinge gehen im Moment leider nicht. Das gilt für alle Förderschulen und leider auch für die weiterführenden Schulen“, so Leiendecker. Dabei profitierten am Ende alle Kinder davon, dass auch Kinder mit Handicap mit in den Klassen sind, davon ist er überzeugt. Und Christoph-Martini sagt: „Wenn man am Ende in eine Klasse schaut und eine Schar von Kindern sieht und keine Förderkinder. Dann sei Inklusion gelungen.“
>>>WEITERE INFORMATIONEN: 720 Kinder an Förderschulen
- Insgesamt besuchen derzeit 720 Kinder eine der vier Förderschulen in Herne. Laut Zahlen von Dieter Leiendecker teilen sie sich wie folgt auf: 240 Schülerinnen und Schüler werden an einer der beiden Förderschulen mit Schwerpunkt „Geistige Entwicklung“ unterrichtet, 98 im Bereich „Sprache“, 254 mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ und 128 mit dem Schwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“.
- Wer sich für eine Förderschule entscheidet, hat in Herne die Wahl zwischen vier Förderschulen mit verschiedenen Förderschwerpunkten. Das ist zum einen die Erich-Kästner-Schule mit den Förderschwerpunkten „Lernen“ und „Sprache“, die Schule an der Dorneburg mit dem Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“, sowie die Robert-Brauner-Schule und die Schule am Schwalbenweg mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“.
- Zudem gibt es die Option des „Gemeinsamen Lernens“, bei dem die Kinder mit Förderbedarf in eine reguläre Klasse integriert sind. Insgesamt haben vier Prozent der Kinder an den Regelschulen in Herne einen Unterstützungsbedarf, sagt Schulamtsleiter Dennis Neumann. Schwerpunktschulen seien die Grundschule Ohmstraße, die Michaelschule sowie die Kolibrischule und die Realschule an der Burg.