Herne. Die hohe Zahl der Abschulungen belastet die Gesamtschulen. Eltern hielten sich oft nicht an die Schulempfehlung und seien „beratungsresistent“.

  • Die Zahl der Abschulungen ist in Herne nach Corona enorm gestiegen.
  • Eltern überschätzten ihre Kinder, die litten unter dem Scheitern.
  • Schulleitungen fordern deshalb Rückkehr zur verpflichtenden Schulempfehlung der Grundschule.

Die Zahl der Schulformwechsler von Gymnasien und Realschulen in Herne ist enorm gestiegen und belastet die Gesamtschulen. Insgesamt haben laut Schulamt 265 Schülerinnen und Schüler zum laufenden Schuljahr die Schulform gewechselt. Drei Jahre zuvor (vor Corona) waren es noch 127 – und schon damals wollte die Stadt die hohe Zahl „nicht einfach hinnehmen“. „Wir haben dieses System Abschulung ganz kritisch auf dem Schirm und sagen: Da müssen wir ran“, sagt Schuldezernent Andreas Merkendorf. Denn für diese Schülerinnen und Schüler eine neue Schule zu finden, stellt nicht nur die Stadt jedes Jahr vor ein Problem, sondern hat auch zum Teil schwerwiegende Folgen für die Kinder.

„Für die Schüler ist es eine Niederlage“, beschreibt Dieter Leiendecker vom Schulamt der Stadt Herne die Situation. Diese Jugendlichen hätten durch die ständigen Misserfolge in Form von schlechten Noten zum Großteil den Spaß an der Schule verloren. Die Ursachen seien sehr unterschiedlich: „Häufig überschätzen die Eltern das Kind einfach“, sagt Leiendecker. Als Folge hielten sie sich nicht an die Empfehlung der Grundschule, sondern schickten ihr Kind beispielsweise trotz Hauptschulempfehlung auf die Realschule oder mit einer Realschulempfehlung zum Gymnasium.

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Aber auch persönliche Faktoren könnten eine Rolle spielen, wenn es beispielsweise zu Hause Probleme gebe, Sterbefälle, Erkrankungen naher Angehöriger oder wenn die Eltern sich scheiden ließen. Es seien auch Schülerinnen und Schüler, die regelmäßig die Schule schwänzten, so Leiendecker. Auch die Pandemie habe die Situation nicht gerade erleichtert.

Eltern achten oft nicht auf Grundschulempfehlung

„Die Eltern sind häufig beratungsresistent“, sagt Nicole Nowak, Schulleiterin des Haranni-Gymnasiums. Nach den Klassen 5 und 6 gebe es regelmäßig Konferenzen, bei denen geschaut werde, ob ein Kind im System Gymnasium richtig aufgehoben sei. „Ein Großteil der Kinder, die es nicht sind, sind Kinder, die keine Empfehlung fürs Gymnasium erhalten hatten“, so Nowak. Es gebe aber natürlich auch einige Kinder mit Realschulempfehlung, die dennoch ihren Weg am Gymnasium gingen. „Das kommt sehr auf den Einzelfall an.“

Häufig müssten Schülerinnen und Schüler die Schulform wechseln, die vorher auch keine Empfehlung bekommen hätten, beobachtet Nicole Nowak, Schulleiterin am Haranni-Gymnasium in Herne.
Häufig müssten Schülerinnen und Schüler die Schulform wechseln, die vorher auch keine Empfehlung bekommen hätten, beobachtet Nicole Nowak, Schulleiterin am Haranni-Gymnasium in Herne. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

Sie verstehe den Wunsch der Eltern, die bestmögliche Laufbahn für das Kind zu wollen. Aber: „Der Wunsch ist das eine, aber man muss auch gucken, was das Richtige für das Kind ist“, betont Nowak. Auch wenn ein Kind an einer Real-, Gesamt- oder Hauptschule beginne, bestehe immer die Option, weiterzumachen; das System sei auch nach oben hin durchlässig. Die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung wieder einzuführen halte sie „nicht für abwegig“. Alternativ sollte den Schulen die Möglichkeit gegeben werden, Kinder abzulehnen.

Herner Schulleiter für verpflichtende Empfehlung

Stefan Lindemann, Schulleiter der Realschule an der Burg, sieht es ähnlich: „Das große Problem ist, dass Grundschulempfehlungen nicht mehr verbindlich sind.“ Häufig hielten sich Eltern nicht an den Rat und schadeten so dem eigenen Kind. Denn wenn ein Kind am Gymnasium nur Misserfolge erlebt hat, könne es zum Teil selbst nach dem Wechsel an eine Realschule dort keine gute Leistung mehr abrufen, da sich die Haltung zur Schule so negativ entwickelt habe.

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Doch trotz dieser Einwände ist Schulamtsdirektorin Andrea Christoph-Martini eine klare Fürsprecherin der freien Elternwahl: „Ich finde gut, dass es die Verpflichtung nicht mehr gibt“, sagt sie. „Die Lehrer waren in einer enormen Verantwortung. Ich kann nicht perspektivisch sagen, dass das die richtige Schulform für ein Kind ist“, sagt Christoph-Martini, die selbst Lehrerin war. Die weiterführende Schule könne auch aus der gerasterten Übergangsempfehlung, wie es sie derzeit gibt, einiges ablesen.

Gesamtschulen vor Platz-Problem

„Wir versuchen natürlich, alles möglich zu machen, um das Kind bei uns zu halten“, betont Schulleiter Lindemann. Aber in manchen Fällen sei keine Perspektive in Sicht. Bei dem durchlässigen System seien auch die Realschulen sehr gebeutelt, sagt der Schulformsprecher. „Wir sind in der Sandwichposition und müssen von oben aufnehmen und geben nach unten ab.“ Er bekomme viele Anfragen von Eltern für die Aufnahme des Kindes, die Realschule an der Burg sei aber an ihren Kapazitätsgrenzen.

Genauso wie die Gesamtschulen: „Bei uns kommen Listen mit 60/70 Schülern an, die wir aufnehmen sollen. Wo sollen wir denn damit hin“, fragt Katharina Rodermund, Schulleiterin der Gesamtschule Wanne-Eickel. Die Gesamtschulen seien voll – bis auf vielleicht ein paar Plätze an der Gesamtschule Mont-Cenis. Denn im System der Gesamtschulen gibt es kein Sitzenbleiben. Die Klassen sind zum Beginn des 7. Schuljahrs also weiterhin so voll wie in der 5. Klasse. Und in dieses überfüllte System drängten dann noch die Schülerinnen und Schüler der Realschulen und Gymnasien, die dort nicht bleiben können.

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„Wir als Gesamtschule können nur die aufnehmen, die wirklich alles, was es an Fördermöglichkeiten an der anderen Schule gibt, ausgeschöpft haben“, betont Rodermund. Dazu gehöre das Wiederholen einer Klasse, aber auch Förderunterricht. „Wenn es die Möglichkeit gäbe, dass die Schüler an den Schulen bleiben könnten, und dort einen anderen, niedrigeren Abschluss machen könnten, wäre das Problem gelöst“, findet Rodermund. Aus ihrer Sicht wäre es deshalb besser, wenn man an einer Realschule auch einen Hauptschulabschluss erwerben könnte. Die Plätze für die Schüler seien ja da, sonst hätte man sie zu Klasse 5 nicht aufnehmen können.

Wenn viele Jugendliche die Schulform wechseln müssen, stellt das auch die Stadt Herne vor Probleme: „Wir als Kommune stehen vor großen Herausforderungen, diese Kinder an einer anderen Schule unterzubringen“, sagt Schuldezernent Andreas Merkendorf. „Das geht immer zulasten des integrierten Systems – sprich der Gesamtschulen.“ Deshalb ist sein Ziel gesteckt: „Wir müssen die Gesamtschulen dahin bringen, dass sie häufiger als Schule 1. Wahl gesehen werden.“ So könne die Zahl der Abschulungen verringert und ein Bruch in der Schullaufbahn verhindert werden.

>>>WEITERE INFORMATIONEN: Abgänge nach Schulform

  • Zum aktuellen Schuljahr 2022/23 mussten insgesamt 265 Schülerinnen und Schüler die Schulform wechseln. 126 von ihnen verließen ein Gymnasium, wie Dieter Leiendecker auf Anfrage mitteilt. 139 eine Realschule.
  • Die meisten Abschulungen gibt es beim Übergang von Klasse 6 zu Klasse 7: 55 vom Gymnasium und 60 von einer Realschule. Aber auch in den darauffolgenden Klassen ist die Zahl hoch. Dabei wechseln einige ältere Schülerinnen und Schüler auch auf ein Berufskolleg.