Herne. Trotz Schulpflicht gehen viele Kinder in Herne nicht zur Schule. Das Problem ist seit der Pandemie stark gestiegen. Die Ursachen sind vielfältig.
Die Zahl der Kinder, die trotz Schulpflicht der Schule fern bleiben, ist in Herne nach der Pandemie deutlich gestiegen. Waren es im Jahr 2019 noch 341 Verfahren, die der Schulaufsichtsbehörde gemeldet wurden, stieg die Zahl im Jahr 2022 auf 544 Fälle. „Beim Schulabsentismus hat man seit Corona eine deutliche Zunahme gespürt“, sagt Stefan Lindemann, Schulleiter der Realschule an der Burg. „Bei Schülerinnen und Schülern, die sowieso Probleme mit einem regelmäßigen Schulbesuch hatten, hat die Coronazeit dieses Verhalten noch mal verstärkt.“
Der Sprecher der Realschulen in Herne weiter: „Seit Corona kämpfen wir wirklich ganz ganz stark, dass wir diese Schülerinnen und Schüler wieder in die Schule bekommen.“ Es würden viele Sozialarbeiterstunden sowie Stunden der Kollegen investiert, um das Verhalten zu dokumentieren und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. „Bis man das Ordnungsamt erstmal soweit hat, dass sie morgens den Schüler vorführen, das dauert.“
Herne: Kinder haben Probleme, sich zu integrieren
Auch Schulpsychologin Ellen Radtke, Leiterin der Schulberatungsstelle in Herne, beobachtet, dass es vielen Kindern und Jugendlichen nach Corona schwergefallen ist, in das System Schule zurückzufinden. „Für diese Schülerinnen und Schüler ist es schwierig, sich nach der langen Phase ohne Kontakte wieder in die soziale Gruppe einer Klasse zu integrieren“, erläutert Radtke. Die Pandemiezeiten seien mit weniger Strukturen und Regeln ein wenig entgrenzt gewesen, und nun seien die Hürden groß, wieder in das begrenzte System Schule zurückzukommen, sagt die Leiterin der Schulberatungsstelle Herne.
Genau diese Schwierigkeit beobachtet auch Katharina Rodermund, Leiterin der Gesamtschule Wanne-Eickel. „Es gibt Leute, die sich in der Gruppe nicht mehr wohlfühlen, die sich nicht mehr einfügen können.“ Die Strukturlosigkeit habe durch Corona zugenommen. Einigen sei es schwergefallen, wieder pünktlich um 8 Uhr in der Schule zu sein. Es sei aber langsam eine Besserung zu spüren: „Jetzt haben wir zu 80 Prozent die Struktur von vor Corona zurück, und das ist hilfreich.“ Dennoch seien die Auswirkungen bei einigen weiter zu spüren. „Die Anzahl der Bußgeldverfahren hat zugenommen“, so die Schulleiterin.
Auch Grundschulen kämpfen gegen Schulabsentismus
Die Problematik ist auch an den Grundschulen bekannt. Regelmäßig landen Fälle von Kindern, die nicht in die Klassen 1 bis 4 kommen, auf dem Schreibtisch von Schulamtsdirektorin Andrea Christoph-Martini. Fünf Schulordnungswidrigkeitsanzeigen an einem Tag seien keine Seltenheit. Anders als bei den älteren Schülern, die häufig nicht zur Schule gehen, weil sie nicht wollen, sei die Lage bei den jüngeren anders: „Bei den Grundschulen sind es die Eltern, die den Absentismus verursachen und ihre Kinder nicht in die Schule schicken“, so Christoph-Martini.
Ab dem dritten Tag erhielten die Eltern deswegen einen Brief, nach einer Woche den zweiten und die Bitte um ein Gespräch. Dann werde eine Ordnungswidrigkeitsanzeige gestellt, die über das Schulamt an das Ordnungsamt gehe, erklärt Christoph-Martini das Vorgehen. Gleichzeitig versuche die Schule, über die Schulsozialarbeit oder die Schulberatungsstelle in Gesprächen, die Ursachen für das Fernbleiben herauszufinden. „Es gibt die Schulpflicht“, betont Christoph-Martini, „und die überwachen wir.“
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Häufig seien auch die Eltern in diesen Situationen machtlos: „Es gibt immer wieder Eltern, die Schüler bis zum Gebäude führen, und dass Schüler dann vorne rein und hinten rausgehen“, beschreibt Schulleiter Stefan Lindemann. Das seien aber auch Krankheitsbilder, die zum Tragen kämen. Schulängste zu Beispiel, denen man versuche, durch Schulsozialarbeit entgegenzuwirken. An der Realschule an der Burg seien es etwa vier bis fünf Schüler, mit denen es regelmäßig diese Probleme gäbe.
Erst kürzlich hat die Landesregierung die Zahlen für Herne in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Landtag bekanntgegeben. Die 544 Verfahren, die in Herne für das Jahr 2022 offiziell erfasst wurden, sind ein absoluter Spitzenwert in den vergangenen fünf Jahren. Und dennoch ist Dennis Neumann, Leiter des Fachbereichs Schule in Herne, der Überzeugung: „Das ist nur die Spitze des Eisbergs. In 90 Prozent der Fälle wird man versuchen, das Problem anders zu lösen.“
In Herne gebe es ein sehr umfangreiches Konzept zum Umgang mit Schulabsentismus, betont Neumann. Momentan werde es noch einmal überarbeitet, „weil die Thematik im Zuge der Corona-Pandemie an Bedeutung zugenommen hat.“ Mit vielen Gesprächen müsse in jedem Einzelfall nach den Ursachen geforscht werden, sagt Schulpsychologin Ellen Radtke und betont: „Das Schwierige am Schulabsentismus ist, dass es keine goldene Lösungsregel gibt.“
>>>WEITERE INFORMATIONEN: Jugendwerkstatt der Jugendkunstschule
- Während es in den Jahren 2018 bis 2020 laut Angaben der NRW-Landesregierung in Herne keine Fälle gab, in denen Kinder zwangsweise der Schule zugeführt werden mussten, waren es in 2021 und 2022 jeweils fünf.
- Die Ordnungswidrigkeitsverfahren lagen 2019 bei 341, im Jahr 2020 (coronabedingt) bei 215, im Jahr 2021 stieg sie dann zunächst auf 409, um 2022 mit 544 den bisherigen traurigen Höhepunkt zu erreichen.
- Das Schulamt der Stadt Herne erfasst nur die Fälle der Grund-, Haupt- und Förderschulen. In diesem Bereich wurden laut Stadt in 2022 insgesamt 285 Fälle erfasst. Bei den rechtskräftigen Bußgeldbescheiden seien dabei Geldbußen in Höhe von insgesamt rund 59.750 Euro festgesetzt worden.
- In Herne gibt es für Kinder, die den Weg in die Schule nicht mehr finden, ein besonderes Projekt: Die Jugendkunstschule bietet mit der Jugendwerkstatt eine alternative Lernform mit dem Ziel der Reintegration in Schule und in die Gesellschaft an. Sie richtet sich an Jugendliche ab dem achten Schuljahr jeder Schulform.