Gladbeck. Von Luftschutzkellern und Kriegsspuren: Ein Blick in die bewegte Vergangenheit der Hochstraße 37. Erinnerungen an Gladbecker Bombennächte.
Auf den ersten Blick ist es ein ganz normaler Keller, hier im Haus an der Hochstraße 37 in Gladbeck. In unzähligen Regalen stapeln sich Kartons und Ladendekoration für das Juweliergeschäft Hahne im Erdgeschoss. Alles steht etwas höher, damit bei Hochwasser nichts nass werden kann. An den Wänden bröckelt hier und da etwas Putz ab. Rohre sind zu sehen, es gibt einen Heizungsraum. Es ist der zweite Blick, der dem Keller seine Geheimnisse entlockt. Ein langes, weißes Rohr führt einmal komplett durch den Keller hindurch. Und was hat es mit dem Raum hinter einer kleinen, unscheinbaren Tür zu tun?
Schnell wird klar: Dieses Haus mitten in der Gladbecker Innenstadt erzählt seine ganz eigenen Geschichten. 111 Jahre ist es bereits alt, 1913 wurde es nach den Plänen des Architekten Emil Fahrenkamp fertiggestellt. Auftraggeber war Anton Hahne, der bereits 1885 das Schmuckgeschäft Hahne in Gladbeck gründete. Inzwischen leitet Urenkel Georg Hahne den Familienbetrieb in der vierten Generation. Das Gebäude ist somit weiterhin in Familienbesitz. Der 54-Jährige ist sich dessen langer Geschichte bewusst. „Das Haus hat sich mit der Zeit stetig verändert“, so Georg Hahne. Trotzdem habe es immer seinen eigenen Charakter beibehalten.
111 Jahre: Blicke in eines der ältesten Wohnhäuser Gladbecks
Gebäude prägt Gladbecker Innenstadt seit über einem Jahrhundert
Der Ladeninhaber hat alte Fotos herausgesucht, die das Gebäude zu verschiedenen Zeitpunkten zeigt. „An den Bildern wird auch deutlich, wie stark sich Gladbeck im Laufe des letzten Jahrhunderts verändert hat“, sagt Georg Hahne. Frühe Fotos zeigen das Gebäude umringt von Straßenbahnschienen und Pflastersteinen. Kaum etwas erinnert an die heutige Innenstadt mit ihrer Fußgängerzone. Das Haus aber ist geblieben. „Man kann schon sagen, dass dieses Gebäude besonders stadtbildprägend war und noch immer ist“, behauptet Georg Hahne.
Charakteristisch für das Gebäude ist seine abgerundete Fassade an der Ecke zum heutigen Europaplatz. Anton Hahne hatte sich an dieser Ecke zur Eröffnung seines Schmuckgeschäfts eine ebenso abgerundete Glasscheibe einbauen lassen. Doch von Dauer war das nicht: „Ein Mann mit einem Motorrad fuhr nur kurz danach in die Glasscheibe hinein“, erzählt Georg Hahne und lacht. Eine neue Glasscheibe sei dann leider zu teuer gewesen. Die runde Fassade aber blieb, abgestützt von einem gebogenen Stahlträger, damals ein bauliches Meisterwerk.
Der Schriftzug an der Fassade, der auf das Baujahr des Hauses verwies, ist dagegen nicht mehr erhalten. Grund dafür sei der Zweite Weltkrieg gewesen, erzählt Dorothee Hahne. Sie ist die Tante von Georg Hahne und führte zusammen mit ihrer Schwester lange Jahre das Familiengeschäft. Dorothee Hahne erlebte als 1937er-Jahrgang die Bombennächte über Gladbeck mit. Sie löst das Geheimnis hinter der kleinen Tür im Keller des Hauses auf. Hier befindet sich ein Luftschutzkeller, den die Familie zwischen den beiden Weltkriegen einbauen ließ. Kaum größer als 10 Quadratmeter, bot dieser Raum der Familie Schutz vor den Fliegerbomben.
„Mindestens zu zwölft harrten wir hier bei Fliegeralarm aus“, berichtet Dorothee Hahne. Häufig hätten auch Nachbarn oder Verwandte hier Zuflucht gefunden. Ein kleiner Schacht führte von hier in den Keller des Hauses nebenan und diente als Notausgang. In diesem Raum hatte sich Dorothee Hahne mit ihrer Familie aufgehalten, als Ende April 1945 eine Fliegerbombe in den vorderen Bereich des Gebäudes einschlug. „Der Druck war wahnsinnig hoch und schleuderte uns von Wand zu Wand“, erzählt die staatlich geprüfte Augenoptikermeisterin. Aber der Bunker hielt Stand, wundersamerweise überlebten alle Anwesenden den Einschlag. „Wenn ich in diesem Raum stehe und mir dessen Geschichte bewusst mache, werde ich schon demütig“, meint Georg Hahne. Seine Mutter, damals noch im Frühkindesalter, war in besagter Nacht ebenso hier. Heute steht der Luftschutzraum fast leer, einige Ventile und sonstige Überbleibsel erinnern aber noch an seine lebensrettende Vergangenheit.
Spuren des Krieges sind bis heute sichtbar
Der vordere Teil des Gebäudes war nach der Bombenexplosion fast vollständig zerstört. „Man konnte einmal durch das Haus auf die Lambertikirche durchschauen“, sagt Dorothee Hahne. Da der hintere Teil des Hauses aber noch stand, entschied sich die Familie für den Wiederaufbau anstelle des kompletten Abrisses. Bereits wenige Jahre später konnte auch das Geschäft im Erdgeschoss wieder öffnen. Noch heute ist erkennbar, welche Teile des Gebäudes ursprünglich sind und welche nach dem Krieg wieder rekonstruiert wurden. Die Säulen an der Fassade Richtung Europaplatz weisen etwa eine glatte Oberfläche auf, während die zum hinteren Teil oder an der Hochstraße 35 geriffelt sind.
Die Geländer der Fenster, die auf die Schillerstraße blicken, sind dagegen erhalten geblieben. Die Initialen ‚A‘ und ‚H‘ erinnern hier noch immer an den ersten Hausbesitzer Anton Hahne. An der Rückseite des Gebäudes sind zudem Spuren des Artillerie-Beschusses zu sehen, der nach der verheerenden Bombennacht aus Richtung Dorsten folgte. Die Einschläge wurden schlicht verputzt und sind daher noch immer sichtbar. Vom hinteren Blickwinkel wird zudem die besondere Form des Gebäudes ersichtlich. Es ist L-förmig und erstreckt sich noch ein gutes Stück hinten raus. Die Wohnungen der Hausnummer 35 an der Hochstraße wurde in die Fassade des Gebäudes integriert.
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In der Nachkriegszeit erhielt das Gebäude eine Arkade
Doch nicht nur der Krieg hinterließ Spuren am Gebäude. Auch neue Architekturtrends machten vor der Hochstraße 37 nicht Halt. Besonders prägend waren die Arkaden, die in der Nachkriegszeit in der Innenstadt zunehmend ausgebaut wurden. Auch das Gebäude der Familie Hahne wurde dementsprechend umgebaut. Eine dicke Betonschicht im vorderen Teil des Kellers erinnert noch immer an diese Zeit. Der Beton sollte die Kellerdecke aufgrund der zusätzlichen Belastung abstützen. „Anfang der 1980er-Jahre erhielten wir die Genehmigung, die Arkade wieder zurückzubauen. Die Fläche konnten wir dann wieder ins Ladengeschäft integrieren“, so Dorothee Hahne, die damals mit Georgs Mutter die Strippen zog.
Seit 2003, nun schon unter der Leitung von Georg Hahne und seiner Frau, steht das Gebäude in seiner heutigen Form mit einem Ladeneingang an der Ecke zum Europaplatz. Abgeschlossen werde die Entwicklung des Hauses damit aber nicht sein, wie Georg Hahne vermutet. „Mal sehen, wie das Gebäude in 15 Jahren aussehen wird“, sagt er und schmunzelt. Der Entwicklung förderlich war und ist dabei, dass das Haus nicht denkmalgeschützt sei.
Rohrpost verbindet Ladenraum mit Werkstatt
Früher bewohnte die Familie selbst das Haus, heute sind alle Wohnungen vermietet. „Ich erinnere mich aber noch, wie die Straßenbahnen quietschend hier vorbeifuhren, als ich ein Kind war“, erzählt Georg Hahne. Die lauten Geräusche haben ihn das eine oder andere Mal vom Schlafen abgehalten. Auch seine Tante hat eine Anekdote an die Zeit, als durch Gladbeck noch Straßenbahnen kurvten. „Die Schienen führten so nah am Haus vorbei, dass wir unsere Markisen vor dem Haus nicht ausfahren konnten“, erzählt Dorothee Hahne und lacht.
Bleibt nur noch die Frage nach dem langen, zunächst unscheinbar wirkenden Rohr im Keller. „Das ist unsere Rohrpost“, sagt Georg Hahne und klopft stolz an die Leitung, die das Ladengeschäft vorn mit der Werkstatt verbindet. Eingebaut wurde die Rohrpost Ende der 1980er-Jahre. „Und wir hoffen, dass sie noch lange hält“, so der gelernte Handelsfachwirt. Durch die Rohrpost rutschen täglich Uhren oder Nachrichten durch, direkt am alten Luftschutzraum vorbei, durch den Keller mit den vielen Regalen und Kartons. Eine ganz eigene Besonderheit, in einen Haus voller weitere besonderer Geschichten.
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