Gladbeck. Wo das Ruhrgebiet noch Ruhrgebiet ist? An der Sandstraße in Gladbeck-Rentfort. Und das seit 1968. Wer hier tankt, kommt nicht nur zum Geldsparen.
Andreas Schüttert wurde der Schraubenschlüssel quasi in die Wiege gelegt. Mit sechs, sieben Jahren habe er zum ersten Mal an Autos herumhantiert. Da führte noch sein Vater Adolf, Jahrgang 1938, die Tankstelle an der Sandstraße in Gladbeck. Dahinter, wo jetzt eine Waschanlage steht, durften er und sein Bruder sich an den ersten Autos ausprobieren. Oftmals durchgerostete VW Käfer.
„So, das könnt ihr jetzt komplett zerlegen“, war die Ansage vom Vater. „Und die Dinger liefen noch“, sagt Schüttert lachend. „Wir haben das ganze Interieur auseinandergenommen“, erinnert sich der Gladbecker, der die Tankstelle von 1968 gemeinsam mit seiner Frau Britta betreibt. Während sich andere Kinder auf dem Bolzplatz austobten, „hatten wir dahinten unseren eigenen Abenteuerspielplatz“.
Zwölf-Stunden-Schichten und trotzdem glücklich
Schüttert ist mit dem Geruch von Diesel groß geworden. Im kleinen Büro hinter dem Verkaufsraum hat er als Knabe seine Hausaufgaben gemacht. Später war er dann im Familienbetrieb angestellt. Als sein Vater im Jahr 2000 verstarb, übernahm der Sohn ein Jahr später die Tankstelle, die heute eine der letzten sogenannten „markenfreien“ im Ruhrgebiet ist. Im selben Jahr haben Andreas und Britta Schüttert geheiratet.
Die 53-Jährige wusste ungefähr, worauf sie sich einlässt, hatte sie doch vorher schon in einem Autohaus gearbeitet. Dass es einmal so kommen würde, habe Schwiegervater Adolf als erstes geahnt: „Ihr beide passt doch gut zusammen“, hatte der schon früh erkannt. Und Recht behalten. Seit bald 25 Jahren stehen die beiden an der Sandstraße nun hinterm Verkaufstresen.
Mit zum Team gehören noch vier Teilzeitkräfte. Trotzdem sind die Tage in einer inhabergeführten Tankstelle lang. Konkret: „Zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche“, sagt Britta Schüttert. Funktionieren könne das nur, weil beide bei der Arbeit auch eine Menge Spaß hätten. Immer mit von der Partie ist die achtjährige Hundedame Poupette, „die erste Vorsitzende vom Verein hier“, sagt Britta Schüttert. Diebe schreckt die kleine Poupette – zu Deutsch: Püppchen – zwar sicher nicht ab; gut fürs Betriebsklima ist sie allemal.
Von doofen Dieben, vergesslichen Kunden und gezückten Messern
Den Wachhund spielen musste die zum Glück noch nie. Die Schütterts haben Glück gehabt: Keinen einzigen Überfall hat es in den gut 50 Jahren seit Bestehen gegeben. Zu Einbruchsversuchen kommt es dafür immer wieder. Die Aufnahme eines besonders dummdreisten Versuchs spielt Andreas Schüttert sichtlich amüsiert auf seinem PC im Büro ab.
Die gestochen scharfen Bilder der Überwachungskamera zeigen die jungen Männer beim Versuch, nachts in die Tankstelle einzudringen. Ohne Erfolg. Danach kamen sie noch zweimal wieder, fingerten an der, wie Andreas Schüttert sagt, gar nicht besonders gesicherten Seitentür herum. Wieder nichts. Wären sie doch reingekommen, hätte sich der Schaden wohl in Grenzen gehalten; außer Keramik wäre nicht viel zu holen gewesen. Es handelte sich um die Toilettentür. „Wir haben da jetzt ein Schild in allen Sprachen angebracht“, sagt Britta Schüttert. Darauf der Hinweis: Hier kein Zugang zu den Verkaufsräumen.
Einmal hat man den Schütterts die Scheibe mit einem Klotz eingeschlagen. Ein anderes Mal kam es fast zu einer Messerstecherei, Andreas Schüttert geriet unfreiwillig dazwischen, bekam nur mit viel Glück nichts ab. Auch hier lief die Kamera. Am häufigsten aber prellten Fahrer die Zeche. Fast immer mit falschen Kennzeichen.
Auf einer Aufnahme ist zu sehen, wie der junge Beifahrer einen Kleinwagen tankt, die Zapfpistole einhängt, dem Fahrer als Zeichen, den Motor anzulassen, unauffällig ans Auto klopft, als wäre nichts gewesen, in den Wagen einsteigt, der dann flugs vom Hof fährt. Und Andreas Schüttert im Privatwagen hinterher. Ein paar hundert Meter weiter hat er das dreiste Diebesduo ausgebremst. Das gab zu verstehen, man hab doch nur eben Geld holen wollen. So jung und schon so vergesslich...
Markenfreiheit bedeutet keine freie Preisgestaltung
Dabei ging es nur um 20 Euro. Die Andreas Schüttert aber trotzdem schmerzen. Gehen die Spritpreise hoch, landet nämlich nicht automatisch mehr Geld in den Taschen des Eigentümers, der so autonom, wie es das „markenfrei“ im Name denken lässt, doch wieder nicht ist. „Wir arbeiten mit einem großen Mineralölkonzern zusammen, der uns den Kraftstoff anliefert, den wir dann in deren Namen verkaufen. Dafür bekommen wir dann immer die gleiche Marge.“ Schüttert gehört zwar die Tankstelle mit Waschstraße, Shop und Werkstatt; der Mineralölkonzern stellt allerdings die Tanktechnik, daher die Abhängigkeit vom Lieferanten.
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Als sein Vater 1971 in Gladbeck an den Start ging, hat er die Preise noch händisch auf einem Aufsteller umgeklappt. Einmal die Woche. Später kamen Tagespreise. Heute wechselten die Kurs 15 bis 20 Mal am Tag, sagt Schüttert, gesteuert von der Konzernzentrale in Berlin. Seinen Kunden rät er deswegen, auf dem konzerneigenen Portal nachzuschauen. Bis die Preise anderswo erschienen, vergingen nämlich schon mal zehn Minuten.
Wie sich die markenfreie Tankstelle gegen die mächtige Konkurrenz behauptet
Mit dem Slogan „Geld sparen. Selbst tanken“, wie auf einem Foto aus den 80er Jahren zu sehen, wirbt die Tankstelle schon lange nicht mehr. Wer früher seinen Wagen vollmachte, bekam an der Tanksäule noch einen Bon ausgespuckt, mit dem musste dann an der Kasse bar bezahlt werden; heute natürlich ohne Bon und meist mit Karte.
Aus Kindheitstagen kennt Schüttert noch die Halde der Zeche Möllerschächte, die vom Garten gut sichtbar war. Bis 1967 dann endgültig Schicht im Schacht war. Heute verläuft auf der einstigen Abraumhalde das Gewerbegebiet entlang der Stollenstraße. Geblieben sind in Rentfort die Zechenkolonien. Ungefähr zeitgleich mit der Tankstelle wurden in Rentfort-Nord dann moderne Wohntürme hochgezogen.
Alteingesessene Rentforter Familien machen heute die Stammkunden der Schütterts aus. Mit vielen ist man längst per Du. Für einen besonders treuen Kunden bestellt Andreas Schüttert auch schon mal die Lieblingszigarren. Reicht das, um in der Konkurrenz mit Aral und Co. rentabel zu bleiben?„Das ist so eine Symbiose: Das eine läuft nicht ohne das andere“, sagt Andreas Schüttert und meint damit „das Komplettpaket“ von Tankstelle, Shop, Waschanlage und Werkstatt, dessen einziger Mitarbeiter übrigends Schüttert selbst ist. „Hier bedient der Chef noch persönlich“, sagt seine Frau mit einem Augenzwinkern.
Verewigt im Film: Dreharbeiten an der Sandstraße
Ans Aufhören wollen beide noch nicht denken. Wenn sie irgendwann einmal in Rente gehen, würden sie die Tankstelle gern in neue Hände geben. Als die gebaut wurde, explodierte die Fördermenge der Erdölindustrie geradezu. Ein Grund für das Ende der Kohleförderung im Revier. In elf Jahren nun werden in der EU keine neuen Benzin- und Dieselverbrenner mehr zugelassen. Autobauer weltweit setzen weitgehend auf Elektromotoren. Die dafür nötigen Ladesäulen werden dezentral geplant. Über kurz oder lang könnten Tankstellen deswegen komplett aus deutschen Städten verschwinden, nicht nur die kleinen inhabergeführten.
Das könnte sich auch jener Regisseur gedacht haben, der sich unlängst bei den Schütterts mit dem Wunsch nach einer Drehgenehmigung vorstellte, grünes Licht bekam und vor Ort eine Szene für seinen neuen Film drehte. Worum es genau geht, darf noch nicht verraten werden. Nur so viel: Eine Liebeskomödie mit viel Pott-Romantik soll es wohl werden. Die kleine Tanke im Ruhrgebiet: Zumindest von der Leinwand wird sie nie verschwinden.
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