Essen. Tausende Juden wandten sich in der NS-Zeit in Bittschreiben an den Papst. Dank der Essener Krupp-Stiftung werden die Briefe historisch erforscht.

„Heiliger Vater, retten Sie uns“, das sind die Worte, mit denen Franz Brinnitzer im Jahr 1942 Papst Pius XII. um Hilfe für sich und seine Frau bittet. Und es ist der Titel eines bemerkenswerten Vortrags in der Villa Hügel, der ein von der Krupp-Stiftung gefördertes Forschungsvorhaben vorstellte. In vielen Tausend Bittschreiben verschränken sich Kirchengeschichte und die Schicksale von Juden, die sich in höchster Not an den Vatikan wandten.

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Die Briefe stammen aus dem Pontifikat Pius XII. (1939-1958) und waren jahrzehntelang im Vatikanischen Archiv unter Verschluss. Bis ein Forschungsteam unter Leitung von Prof. Hubert Wolf von der Universität Münster im März 2020 die Möglichkeit bekam, auf das Material zuzugreifen. Es umfasst sagenhafte 400.000 Schachteln mit jeweils bis zu 1000 Blatt.

Essener Krupp-Stiftung hilft, einen historischen Schatz zu heben

Verdienst der Krupp-Stiftung ist es, die Sichtung der Dokumente gefördert zu haben, ohne zu wissen, was diese ans Licht bringen würden. Denn, sagt die Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung, Prof. Dr. Ursula Gather, „bereits die Projektskizze ließ erahnen, dass das Vorhaben die historische Perspektive verändern kann“.

Briefe werden digital abrufbar

Die schätzungsweise 15.000 Bittschreiben verfolgter Jüdinnen und Juden, die das Forschungsteam um Prof. Dr. Hubert Wolf entdeckt hat, sollen nun in digitaler Form für die Öffentlichkeit aufbereitet werden.

Dies geschieht im Rahmen des Folgeprojekts „Asking the Pope for Help“ mit Unterstützung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), des Auswärtigen Amts und der Bayer AG. Infos zum Projekt auf: www.uni-muenster.de/FB2/aph

Wem der Vatikan welcherart Hilfe mit welchem Erfolg anbot, ob er christlich getaufte Juden gegenüber ungetauften bevorzugte, ob es also eine Hierarchisierung der Bittsteller gab – das kann das Team um Prof. Wolf noch nicht abschließend beurteilen. Selbst die exakte Zahl der Briefe ist unklar, 15.000 könnten es sein und noch mehr Betroffene, die sich dahinter verbergen. „Nach vier Jahren können wir immer noch nur schätzen.“

Eins indes steht schon fest: Wer noch immer einen guten Grund für Pius’ Schweigen zum Menschheitsverbrechen der Shoah sucht: Nichtwissen scheidet aus, stellt Wolf klar. „Der Papst und die Kurie waren über die Judenverfolgung bestens informiert.“ Spätestens seit 1939 zeichneten die Bittbriefe ein Bild der sich zuspitzenden Lage.

Kirchenhistoriker untersucht, ob der Vatikan verfolgten Juden half

Professor Hubert Wolf von der Uni Münster will die verfolgten und ermordeten Juden dem Vergessen entreißen. Wie sich ihre Schicksale in Briefen an den Papst widerspiegeln, schilderte er jetzt in der Villa Hügel.
Professor Hubert Wolf von der Uni Münster will die verfolgten und ermordeten Juden dem Vergessen entreißen. Wie sich ihre Schicksale in Briefen an den Papst widerspiegeln, schilderte er jetzt in der Villa Hügel.

Am Beispiel von Franz Brinnitzer schildert Wolf den 250 Zuhörern in der Villa Hügel, welche Fragen die Briefe aufwerfen und welche Auskunft sie geben – und ob das Vertrauen in das „gute, treue Herz“ des Papstes, wie es Brinnitzer anrührend formuliert, gerechtfertigt war. Seiner Bitte von Juli 1942 schickt er voran: „Bemerken muss ich, daß ich Jude bin, also keine Berechtigung habe, bei Eurer Heiligkeit anzuklopfen.“ Doch er klopft an, wie es viele andere tun, denen oft auch geholfen wird: Sie erhalten meist Geld, es werden auch Visa organisiert, Schiffspassagen gebucht.

Der Papst und die Kurie waren über die Judenverfolgung bestens informiert.“
Prof. Dr. Hubert Wolf, Kirchenhistoriker

Franz Brinnitzer und seine Frau stammen aus Breslau, ihr Sohn Heinz hat sie nach Italien geholt, will von da mit ihnen nach Palästina fliehen. Doch während seine Flucht gelingt, bleiben all seine Bemühungen für die Eltern vergeblich, sie dürfen nicht einreisen. Sie bleiben, schreibt Franz Brinnitzer, „verlassen im fremden Land“ zurück.

Bemerken muss ich, daß ich Jude bin, also keine Berechtigung habe, bei Eurer Heiligkeit anzuklopfen.“
Franz Brinnitzer in einem Brief an den Papst im Jahr 1942

Ein Pater legt den Fall dem Papst vor; es werden 500 Lire aus einem Flüchtlingsfonds bewilligt. Zwei Monate habe man davon leben können, sagt Wolf. In den Akten des Vatikans verliert sich irgendwann die Spur der Brinnitzers.

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Weil aber Kirchenhistoriker Wolf den verzweifelten Briefschreibern ein Gesicht geben, sie dem Vergessen entreißen will, forscht sein Team in anderen Archiven, etwa in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, weiter. Bei den Eheleuten Brinnitzer gibt es traurige Gewissheit: Sie werden (60 und 65 Jahre alt) 1944 aus Florenz deportiert und in Auschwitz ermordet.

Ein Jahr zuvor, im Oktober 1943, sind 1700 Juden aus Rom in das Vernichtungslager deportiert worden, nur 16 werden überleben. Einen öffentlichen Protest von Pius gegen die Deportation, die sich im Wortsinn vor den Toren des Vatikans abspielte, habe es nicht gegeben. Dem großen Versagen steht die Hilfe im Einzelfall gegenüber, oft nicht vom Papst, sondern „auf Arbeitsebene“ entschieden, von Nuntius, Bischof und anderen Würdenträgern.

Briefschreiber wenden sich in höchster Not an den Papst

Sie nehmen sich der Briefe an, die auf Deutsch, Italienisch, Englisch oder Französisch verfasst sind, die den Papst wie Brinnitzer korrekt als „Heiligen Vater“ ansprechen oder fälschlich als Hochwürden, Majestät gar. Andere Bitten werden mündlich vorgetragen oder durch christliche Freunde weitergegeben. Ob man Standards für den Umgang damit hatte, ob es in der Kurie ausgewiesene Judenfeinde und Judenfreunde gab – auch das ist Gegenstand der laufenden Forschung.

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Mögen Wolf und sein Team viele grundsätzliche Fragen noch nicht beantworten können: Fünf weitere Schicksale zeigen an diesem Abend in der Villa Hügel, dass es die kühle Absage („nichts zu machen“) genauso gab wie eindringliche Appelle und quälend lange Briefwechsel.

Tragische Missverständnisse verhindern die Rettung

Meta Sommerfeld, die schon ein Visum nach Argentinien hat, läuft die Zeit davon, während zwischen Berlin und Rom verbale Girlanden (à la „Ich küsse den päpstlichen Ring“) ausgetauscht und gleichzeitig wichtige Fakten falsch weitergegeben werden. Da wird etwa der Vorname Meta als „Methodistin“ gelesen, weswegen im Vatikan das Interesse an Frau Sommerfeld zeitweilig erlischt. „Zahlreiche tragische Missverständnisse“, sind laut Wolf dafür verantwortlich, dass Meta Sommerfeld nie zu ihrem Sohn nach Buenos Aires gelangen wird. Sondern nach Auschwitz.

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