Essen. Die Jüdische Gemeinde in Essen hat feierlich die neue Torarolle eingeweiht: Urenkel des letzten Synagogendieners kamen aus aller Welt nach Essen.
Sie kommen aus Ecuador, Kolumbien, Israel und den USA – und haben sich an diesem Juni-Sonntag in der Alten Synagoge in Essen verabredet: Für die fünf Geschwister Dorfzaun ist es ein ungewöhnliches Familientreffen, für die Jüdische Kultusgemeinde ein großer Feiertag. Eine neue, in Israel geschriebene Torarolle wird eingeweiht und hier vollendet: Die letzten der 304.805 Buchstaben werden sorgfältig aufs Pergament gesetzt. An jenem Ort, wo in der Pogromnacht 1938 die Torarollen von den Nazis verbrannt wurden.
Familientreffen und Feierstunde in der Alten Synagoge Essen
Längst ist die Alte Synagoge kein Gotteshaus mehr, sondern ein Haus jüdischer Kultur. Für Leiter Uri Kaufmann war es aber keine Frage, der Jüdischen Gemeinde sein Haus für das „ganz besondere Ereignis“ zu überlassen, für eine Feierstunde mit Gemeindemitgliedern, Rabbinern und Gästen aus aller Welt. Darunter die Geschwister Dorfzaun: Ihr Urgroßvater Albert Heidt war der letzte Kastellan (Synagogendiener) in Essen vor der Shoah. „Er und seine Familie haben damals neben der Synagoge gewohnt“, sagt Alberto Dorfzaun. Urgroßvater Albert und dessen Sohn Ernst wurden in der Nacht 9. November 1938 vom Nazi-Mob aus dem Haus geholt und gezwungen, die Synagoge zu öffnen.
„Sie mussten alle 500 Glühbirnen anmachen und die Torarollen aus dem Toraschrank holen. Die Rollen wurden mit Benzin übergossen und angezündet, dann wurde die Synagoge in Brand gesetzt“, erzählt Alberto Dorfzaun. Er wurde 1955 geboren, zehn Jahre nach Ende des Krieges und auf einem anderen Kontinent. Doch er trägt diese Geschichte in sich wie den Vornamen des Urgroßvaters, spanisch ausklingend auf O.
Auch seine Mutter Ilse hatte den Schrecken der Pogromnacht als Mädchen miterlebt. Ihren Kindern hat sie davon erzählt, um die Erinnerung wachzuhalten. Sie sollten wissen, woher sie kommen, was geschehen ist. Zu ihrem Sohn sagte sie einmal: „Wenn ich Dir eine Zusammenfassung meiner Gefühle geben soll, ist das: Angst.“
Die Mutter habe sehr gelitten, das Feuer habe sie so erschrocken. Albert Heidt tat die Ausschreitungen der Nazis dagegen als einen Spuk ab, der bald vorübergehen würde. Er war Kaufmann, angesehen, beliebt und wie viele ältere Juden ein deutsch-nationaler Patriot. Als die anderen Familienmitglieder 1941 nach Südamerika flohen, blieb er mit seiner Tochter Meta in Essen, seiner Heimat. Im Jahr darauf wurden beide nach Theresienstadt deportiert. „Meine Mutter wusste zeitlebens nie, wo er umgekommen ist, das hat sie gequält“, sagt Alberto Dorfzaun. „Erst vor einigen Jahren haben wir erfahren, dass er in Treblinka umgebracht wurde und Tante Meta in Sobibor.“
Die Torarolle wird von Hand auf Pergament geschrieben
Die Tora („Lehre, Gesetz“) besteht aus den fünf Büchern Mose und ist Teil der hebräischen Bibel. Sie wird in hebräischen Buchstaben auf handgefertigtes Pergament geschrieben. Die Torarolle ist auf zwei Holzstäbe aufgewickelt und mit einem bestickten Mantel bedeckt. Sie darf nicht mit bloßen Händen berührt werden, daher dient ein silberner Stab als Lesehilfe.
Der „Sofer“ (Schreiber) restauriert und fertigt neue Kopien einer Tora. Er schreibt die Tora von Hand mit Gänsekielen und reiner Tinte. Die Tora hat 304.805 Buchstaben; macht der Sofer einen einzigen Fehler, muss er von vorne anfangen. Eine neue Torarolle wird in der Regel unvollendet in eine Synagoge gebracht: Die letzten zwölf Buchstaben des 5. Buch Moses fehlen und werden in der Synagoge von Hand geschrieben. Die „Vollendung“ (Sijum ktiwat sefer tora) findet in einer Feierstunde statt. Es gilt als besondere Ehre für Rabbiner, Tora-Spender und bedeutende Persönlichkeiten daran aktiv teilzunehmen.
Die Überlebenden, denen die Flucht nach Kolumbien gelang, bauten ein neues Leben auf, lernten Spanisch und lehrten ihre Kinder auch Deutsch. Die älteste Janet wurde 1953 geboren, zwei Jahre später folgte Alberto, dann Barbara (1958), Ernesto (1960) und schließlich im 1966 Roberto. Längst sind sie selbst Eltern und Großeltern, leben über den Erdball verstreut. Und an diesem Sonntag (12.6.) mit ihren Ehepartnern nach Essen gekommen.
Ein Buchstabe in der Tora – ein Kapitel in seiner Familiengeschichte
Es sei nicht ihr erster Besuch in Deutschland, sagt Janet Dorfzaun: Schon vor 20 Jahren hat sie ihre Mutter begleitet, die auf Einladung der Stadt Essen in ihre alte Heimat zurückkehrte. „Sie war glücklich, hier zu sein, hat Menschen getroffen, die sie von früher kannte.“ Im vergangenen Jahr verfolgte die große Familie Dorfzaun dann per Videoschalte, wie neben der Alten Synagoge die Stolpersteine für Albert und Meta Heidt verlegt wurden.
Die beiden hatten 1938 ansehen müssen, wie die Torarollen entweiht und verbrannt wurden. Ihre Nachfahren dürfen nun dabei sein, wie die neue Torarolle eingeweiht wird: „Das ist wie eine Wiedergeburt der Gemeinde“, sagt Janet Dorfzaun.
Auch die Gemeinde feiert mit der neuen Tora die Rückkehr jüdischen Lebens: In der Pogromnacht habe es so ausgesehen, als sei das in Deutschland für immer beendet. „Wir haben viele Gründe zu feiern, wenn heute zum ersten Mal seit mehr als hundert Jahren eine Torarolle hier zu Ende geschrieben wird“, sagt Rabbiner Shmuel Aronow von der Jüdischen Kultusgemeinde Essen.
Und viele sollen daran teilhaben, in dem sie einen der noch fehlenden 68 Buchstaben schreiben dürfen, bevor die neue Torarolle in einem feierlichen Umzug durch Essen zur neuen Synagoge gebracht wird. Alberto Dorfzaun ist einer, dem diese Ehre zuteil wird. Es geht um einen Buchstaben in der Tora – und ein Kapitel in seiner Familiengeschichte.