Essen. Walter Kern schildert die Schicksale von Essener Juden, die in „Mischehen“ lebten. Kurz vor Kriegsende erfasste der NS-Vernichtungswille auch sie.

Es ist das Buch zur Zeit, obwohl Walter Kern seine Arbeit daran schon vor Jahren begonnen hat. Wenn sich heute Juden in Deutschland unsicher fühlen, wenn ein überkommen geglaubter Antisemitismus neu auflebt, blättert der Essener Historiker und frühere Lehrer ein wenig beachtetes Kapitel der Judenverfolgung auf. In „Der ,Mischehe’-Transport aus Essen 1944“ widmet er sich den Schicksalen jener Juden, die mit einem nichtjüdischen Partner verheiratet und dadurch lange Zeit vor der Deportation geschützt waren.

Angesichts von fast sechs Millionen ermordeter Juden könne ihr Schicksal marginal erscheinen, notiert Kern. In der Geschichtsforschung habe diese – zahlenmäßig kleine – Gruppe wohl auch deswegen bisher wenig Beachtung gefunden. Dabei habe es für die in „Mischehen“ lebenden jüdischen Männer und Frauen keine echte Sicherheit gegeben, sondern eine bloß „aufgeschobene Verfolgung“, betont Kern. Wenn man die bis Kriegsende andauernde Bedrohung von Seiten des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates betrachte, „wird deutlich, wie viel Angst und Dauerbelastung die Betroffenen aushalten müssen“.

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Am heutigen Freitag jährt sich der letzte Essener „Mischehe“-Transport vom 18. Oktober 1944. Mit dem ersten und größten waren einen Monat vorher, am 18. September 1944, etwa 90 jüdische Männer und Frauen aus Essen in Arbeitslager abtransportiert worden. Nur einen Tag zuvor hatte man sie informiert, dass sie „zum geschlossenen Arbeitseinsatz“ in Lager der Organisation Todt gebracht würden. Eine Ankündigung, die in den betroffenen Familien Verzweiflung auslöste, waren doch schon die Deportationen in die Vernichtungslager zwei Jahre zuvor zynisch als Arbeitseinsätze verbrämt worden.

Sieben Monate versteckt in einem Keller im Segeroth

Das Verschwinden von Geschwistern und Eltern 1941 bis 1943 setzte den in Essen bleibenden jüdischen Frauen und Männern in ,Mischehen’ seelisch stark zu.“ Nun glaubten viele, dass auch sie nach Auschwitz deportiert würden. Und so seien in dieser Zeit deutlich mehr Juden untergetaucht, als zu Beginn der 1940er Jahre, sagt Kern. Denn damals hatten viele noch die Legende vom Arbeitseinsatz geglaubt.

Kern hat im Jahr 2014 in dem Buch über „Stille Helden“ bereits jene Essener gewürdigt, die jüdischen Männern und Frauen geholfen haben, in der NS-Zeit zu überleben. Nun kann er an diese Arbeit stellenweise anknüpfen, erzählt etwa von Karl Königsbuch, der sieben Monate mit seinem Retter in einem Keller im Essener Segeroth lebte.

Die meisten Retter sprachen nicht über ihre mutigen Taten

Der 62-Jährige Königsbuch war ein wohlhabender Textilkaufmann, dessen Geschäft in der Pogromnacht 1938 zerstört wurde. Vergeblich bemühte er sich mit seiner nichtjüdischen Frau um eine Emigration, wurde an der holländischen Grenze festgenommen und kam wegen „Devisenvergehen“ in Schutzhaft. Als er im September 1944 abtransportiert werden soll, taucht er unter, spricht den Bergmann Albert Korditschke an. Und der nimmt Königsbuch in seinem 4 mal 4 Meter großen Kellerraum auf, „um ihm eine Zuflucht zu gewähren“. So schlicht steht es im Protokoll in der Entschädigungsakte von 1952, sonst wäre wohl nichts über diese mutige Tat bekannt, glaubt Kern. In der Nachkriegszeit habe niemand etwas davon wissen wollen: „So schwiegen sie lieber über ihr Handeln, das sie selbstverständlich fanden.“

Tatsächlich habe es eine vergleichsweise große Zahl von Rettern gegeben: Einmal weil die Juden in „Mischehen“ naturgemäß enger in nichtjüdische Familien- und Freundeskreise eingebunden waren, also schlicht mehr potenzielle Helfer kannten. Zum anderen weil mit dem nahenden Kriegsende die Bereitschaft wuchs, einen Untergetauchten aufzunehmen oder zumindest zu decken. „Alle 42 Untergetauchten aus Essen, die ich bisher finden konnte, überlebten bis zum Kriegsende, allerdings manche schwer gezeichnet von den Bedingungen des illegalen Lebens in Verstecken“, schreibt Kern.

Überlebte in einem Versteck bei Herkenrath: Die Essenerin Jüdin Ella Baltz. Das Bild zeigt sie mit ihrem Sohn Alfred 1949 in der Gruga.
Überlebte in einem Versteck bei Herkenrath: Die Essenerin Jüdin Ella Baltz. Das Bild zeigt sie mit ihrem Sohn Alfred 1949 in der Gruga. © Klaus Daub | Steeler Archiv

Auch die meisten der Abtransportierten hätten überlebt. Dabei war der nationalsozialistische Vernichtungswille bis in die letzten Kriegsmonate ungebrochen. Im Oktober 1943 erklärte Heinrich Himmler: „Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. [...] Die Frage der mit nichtjüdischen Teilen verheirateten Juden und die Frage der Halbjuden werden sinngemäß und vernünftig untersucht, entschieden und dann gelöst.“ Der „Mischehe“-Transport war nicht der letzte Teil dieser „Lösung“: Noch im Januar 1945 wurden viele Betroffene aus den Arbeitslagern in das KZ Theresienstadt verlegt.

Geschichten von großer Menschlichkeit – und schäbigster Denunziation

Walter Kern hat frühere Forschungsarbeiten von Ernst Schmidt oder Hermann Schröter nicht nur durch Akten und Archivmaterial ergänzt, sondern auch Zeitzeugen und deren Kinder oder Enkel interviewt. Uri Kaufmann, Leiter der Alten Synagoge und Verfasser des Vorworts, lobt, dass Kern „das Schicksal der allerletzten Deportierten erforscht und spannendes Material gesichert hat“.

Kern erzählt dabei von großer Menschlichkeit – und von schäbigster Denunziation: Ein halbes Dutzendmal ging eine Nachbarin zur Gestapo und wies auf Julie Risse hin, die sich in der Essener Leveringstraße versteckt hielt. Ende Februar 1945 wurde die 52-Jährige schließlich abgeholt und im April 1945 in Dortmund erschossen. Nur einen Monat später endete der Krieg.