Essen. . Die Familie von Ellen Mendel musste 1939 vor den Nazis fliehen. Ab 1980 betrat sie wieder Essener Boden und sprach oft als Zeitzeugin in Schulen.

Die abgegriffene Kladde hat Ellen Mendel immer dabei, auch bei diesem womöglich letzten Besuch. Sie ist das wichtigste Utensil, das die aus Essen stammende 82-jährige New Yorkerin in all den Jahrzehnten mitgebracht hat, wenn sie in ihre Geburtsstadt reiste. Denn in der Kladde hat sie in kurzen Statements und mit vielen Fotos das Schicksal ihrer jüdischen Familie dokumentiert. Die musste 1939 vor den Nazis fliehen.

Fast mädchenhaft wirkt die zierliche Frau, die so anschaulich und warmherzig von ihren Eltern und Großeltern spricht. Das tut sie, obwohl sie bei der Flucht erst drei Jahre alt war, auf Deutsch. „Mein Vater hat großen Wert darauf gelegt, dass ich die Sprache lerne. Darum wurde bei uns Zuhause nur Deutsch gesprochen. Doch ich habe es als Jugendliche gehasst, denn ich wollte Amerikanerin sein“, verrät sie. „Heute bin ich froh darüber. So konnte ich in den vergangenen Jahren als Zeitzeugin in Essener Schulen meine Geschichte erzählen.“

Ihr Vater war ein beliebter Arzt

Die beginnt mit ihren Großeltern und Eltern, allesamt damals angesehene Essener Bürger. Der Vater, Ernst Mendel, war ein beliebter Arzt und hoch dekorierter Teilnehmer des Ersten Weltkrieges. Mutter Jella Mendel kam aus dem badischen Eppingen. Bilder zeigen eine elegante Frau mit der für die Zeit typisch gewellten Kurzhaarfrisur, die ernst in die Kamera schaut. 1934 wurde geheiratet, 1935 kam das einzige Kind Ellen im Elisabeth-Krankenhaus zur Welt, eines der wenigen Häuser, in dem damals noch Juden gebären durften. „Ich wurde eine Woche vor dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze geboren.“ Danach war auch für ihre Eltern klar, dass sie nicht mehr in Deutschland bleiben konnten. „Wir hatten keine Rechte, keinen Schutz, nichts mehr. Uns blieb nur noch die Flucht.“

Von diesen ersten Jahren hat die studierte Lehrerin und Psychotherapeutin zwar kaum mehr Bilder im Kopf, dafür aber viele Gefühle. Das vorherrschende war Angst: Angst, verlassen zu werden, Angst, dass die Eltern, die sie immer wieder zu den Großeltern brachten, nicht mehr zurückkommen könnten. Sie bereiteten die Ausreise vor, die sie 1939 erst nach Brüssel und anderthalb Jahre später nach New York führte. Die Großeltern blieben zurück – und es gab kein Wiedersehen mehr. „Dass wir gerettet wurden, war ein großes Glück, ja ein Wunder. 20 Angehörige verlor ich im Holocaust.“

1980 kam sie erstmals wieder nach Essen

Der Anfang in New York war schwer: Der Vater durfte nicht als Arzt praktizieren, musste erst sein Examen wiederholen. „Trotzdem bin ich sehr behütet aufgewachsen, wusste aber immer um unsere Familiengeschichte.“ Ihr Vater reiste nie wieder in die Heimatstadt. Und Ellen Mendel brauchte mehr als 40 Jahre, bevor sie 1980 das erste Mal nach Essen kam. „Ich konnte erst deutschen Boden betreten, als ich keinen Groll, keine Bitterkeit mehr spürte.“ Den ersten Besuch wird Ellen Mendel nie vergessen: „Ich hatte das Gefühl, dass meine zerrissenen Wurzeln wieder zusammenwachsen. Das hat mich mit großem Glück erfüllt.“

Seit damals kam sie immer wieder, um als Zeitzeugin über zu sprechen. Sie lernte viele Essener kennen, die zu Freunden geworden sind. Sie alle sind jetzt, zu ihrem altersbedingt wohl letzten Besuch, in die Alte Synagoge gekommen. „Es ist fantastisch, hier zu sein “, begrüßt sie Ellen Mendel, lässt noch einmal ihr Leben Revue passieren. Nicht ohne auf die aktuelle Situation einzugehen: „Wenn ich von Menschen lese, die heute vor Krieg, Verfolgung und Gewalt flüchten, kommt für mich alles wieder hoch. Ich denke, dass jeder von ihnen eine ganz eigene Geschichte hat, die ihn zeitlebens prägen wird.“